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Populismus: Zurück zu den Wurzeln

Hans-Georg Betz
12th März 2018

Um die Anziehung der damaligen rechtsradikalen populistischen Parteien zu verstehen, ist es essenziell, zu den Wurzeln des Phänomens zurückzukehren – im Ausland und zu Hause. Der heute beständige, verbale Angriff auf Europas muslimische Minderheit ruft die jahrhundertealte Kampagne gegen Katholiken in grossen Teilen der Vereinigten Staaten in Erinnerung, welche von der Angst vor einer «Invasion» und Unterwanderung genährt wurde. Die heutige identitäre Politik, zentral für die radikale rechtspopulistische Mobilisierung, ist nichts mehr als ein Wiederkäuen der Politik der Nostalgie, welche immer dem Nativismus innegewohnt hat.

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Sie kamen Mitte der 50er Jahre des 18. Jahrhunderts aus Württemberg, der Pfalz und der Schweiz. Sie waren häufig so arm, dass sie gezwungen waren, ihre eigenen Kinder zu verkaufen. Krank kamen sie in Massen nach Philadelphia, um sich ein neues Zuhause zu suchen. Die lokale Bevölkerung, das angloprotestantische Bürgertum, war alles andere als gastfreundlich und beschuldigte die «unkultivierten» Neuankömmlinge, einen übelriechenden Duft auszuströmen, Krankheiten zu verbreiten und sogar schlechtes Wetter zu verursachen.

Das änderte sich erst, als die Neuankömmlinge Jobs annahmen. Die Feindseligkeit gegenüber den Immigranten wurde durch die zunehmende Angst befeuert, dass sich die Deutschen nicht integrieren und Pennsylvania eine «germanisierte» Kolonie werden würde.

Der Ausbruch von Fremdenfeindlichkeit in Pennsylvania 1750 kennzeichnet eine der ersten Episoden davon, was in der amerikanischen Historiographie als «Nativismus» bezeichnet wird. Obwohl dies ein ursprünglich amerikanisches Phänomen ist, spielt Nativismus eine zentrale Rolle, wenn es um das Verstehen der radikalen Rechte der Gegenwart geht. Der Wahlerfolg von Parteien wie dem Front National, der FPÖ und der AfD ist grösstenteils auf ihr Können zurückzuführen, ein politisches Projekt entstehen zu lassen, welches populistische Rhetorik mit dem nativistischen Diskurs vereint.

Nativismus fusst auf der Auffassung, dass den Empfindlichkeiten und Bedürfnissen von «Einheimischen» absolute Priorität gegenüber denjenigen der Neuankömmlinge gewährt werden soll; sie sollen bevorzugt werden, einfach, weil sie «einheimisch» sind. Gleichzeitig reflektiert Nativismus einen bewussten Versuch der «indigenen» Bevölkerung, sich zu verteidigen, für ihren Erhalt zu sorgen und das Erbe ihrer Kultur wiederzubeleben. Im amerikanischen Fall war dies der angelsächsische Protestantismus. Amerikanische Nativisten machten den angelsächsischen Protestantismus dafür verantwortlich, dass er mit seinen essentiellen moralischen und intellektuellen Qualitäten unabdingbar für eine demokratische Staatsbürgerschaft sei. Damit erklärten sie   die amerikanische Kultur als überlegen.

Nativismus kehrte in einem ausserordentlichen Ausmass in den Dekaden, die dem Bürgerkrieg vorangingen, als Antwort auf den wachsenden Zustrom von Immigranten aus Irland und Deutschland – die meisten von ihnen arm und katholisch – zurück. Viele von ihnen liessen sich in den Städten des Nordostens – Boston, New York und Philadelphia – nieder. Die Antwort darauf kam schnell und sie war bösartig. Innerhalb weniger Jahre erschienen Dutzende Flugblätter, welche vor der fundamentalen Bedrohung der demokratischen Institutionen der Vereinigten Staaten und den grundlegenden Freiheiten ihrer Bürger durch die katholischen Immigranten warnten. Eine neue Partei entstand, die «Nichtswissenden» («Know-Nothings»), welche auf einer Welle der anti-katholischen Hysterie ritt und eine der beiden grossen Parteien in ihrem Aufbau zerstörte und drohte, sich die Präsidentschaft zu schnappen. Erst als die Anti-Sklavereibewegung an erste Stelle der politischen Agenda trat, kollabierte die Nativistenbewegung schnell.

Die «Nichtswissenden» beschuldigten den Katholizismus, nicht mit den demokratischen Institutionen des Landes vereinbar zu sein. Die Partei pries sich selber als einzig wahre Verteidigerin des amerikanischen Geistes an, die dazu fähig sei, dem politischen Establishment entgegenzuhalten. Dieses wurde beschuldigt, korrupt zu sein und sich mit denjenigen zu verschwören, welche die Republik zu zerstören versuchten. Somit konnte der nativistische Diskurs mit der populistischen Rhetorik zusammengeführt werden – eine Gewinnformel, die sich als politisch erfolgreich, aber kurzlebig erwies.

Die nativistische Leidenschaft erwachte wieder in den 1880er- und 1890er-Jahren, wieder einmal um primär die katholischen Immigranten zu attackieren. Dies war eine Periode ökonomischer Turbulenzen und weitverbreitetem politischem Chaos, welches eine neue Welle populistischer Mobilisierung befeuerte. Diesmal jedoch wurden Populismus und Nativismus grösstenteils nicht miteinander vermischt. Die Populisten, eine vorwiegend landwirtschaftliche Bewegung, die sich mit der beginnenden Arbeiterbewegung verbündete– äusserten selten nativistische Gefühle. Die wenigen Male, bei welchen die nativistische Wut ausbrach, richteten sich in der Regel gegen britische Investoren und abwesende Grundbesitzer und, vor allem im pazifischen Westen, gegen chinesische Arbeiter. Hier waren es vor allem Frauen in der Arbeiterbewegung, welche gegen die Chinesen hetzten und sie beschuldigten, Frauen ihre Berufsmöglichkeiten wegzunehmen.

Die amerikanische Nativismusbewegung des 19. Jahrhunderts zeigte sich folgenschwer. Trotz Wachstum und Abflauen der Bewegung hinterliess sie als Erbe ein potentes Repertoire an politischen Auseinandersetzungen und Streitpunkten. Zentrale Elemente davon waren die Vorstellungen einer kulturellen Inkompatibilität und ein starker Fokus auf die Frage nach der nationalen Identität, auf welchen der nativistische Diskurs und seine Rhetorik bis heute fusst – weit über den amerikanischen Kontext hinaus. So kann man beispielsweise die Beschuldigung von prominenten europäischen Politikern des rechtsradikalen Flügels wie Geert Wilders und Heinz Christian Strache betrachten, welche den Islam als fundamental inkompatibel mit der liberalen Demokratie, Frauenrechten, Gleichberechtigung von Schwulen, Lesben, etc. betrachten.

Die Wurzeln des derzeitigen europäischen Populismus des rechtsradikalen Flügels kann  aber auch auf einen  «einheimischen» Fall von populistischer Mobilisierung zurückgeführt werden – die «Boulangistenbewegung» («Boulangist Movement»), welche in den späten 1880er-Jahren startete und für einige Jahre das politische Fundament der Dritten Französischen Republik erschütterte. Diese Bewegung startete als eine ungleiche Koalition von Anti-Establishment-Gruppierungen, vereint in ihrem Frust gegenüber der Instabilität, der Stagnation und der vermuteten Korruption der politischen Führung. Überlistet vom politischen Establishment und verlassen von ihren Führern, welche ins Exil flohen, kollabierte die Bewegung schnell. Der engagierteste militante Flügel jedoch, hinter seinem Führer, Maurice Barrès, liess sich eine innovative, programmatische Mischung einfallen. Es brachte verschiedenartige nativistische Ideen zusammen zu einem kohärenten «nationalsozialistischen» Programm, welches darauf ausgelegt war, urbane Arbeiter anzuziehen. Der Eckpfeiler seiner Vorstellung waren Forderungen für nationale Sicherheit, besonders gegenüber ausländischen Arbeitskräften.

Wenn Nativismus eine substanzielle Anzahl an Wählenden berührt, liegt dies daran, dass tiefsitzende, menschliche Emotionen angesprochen und angezogen werden – Sorge, Angst und Verbitterung. Gegen die Avancen des rechtsradikalen Populismus anzukämpfen, bedeutet, sich gegen die Ursachen dieser Emotionen einzusetzen: Deindustrialisierung, eine sich schnell entwickelnde, soziale Ungleichheit, der wachsende Verlust von Solidarität, individuellem Selbstwert und -sinn. Dies bedingt Lösungen, welche weit über die Vorstellung von ökonomischer Kompensation hinausgeht, die der traditionelle Weg sind, um den Verlierern von Handel und Globalisierung zu helfen. Den Opfern Vorwürfe zu machen – so wie es Hillary Clintons berühmt-berüchtigte Tirade gegen die «Deplorables» (die «Kläglichen») vormachte – ist falsch und kontraproduktiv.


Hinweis: Dieser Beitrag basiert auf dem Kapitel von Hans-Georg Betz aus dem Sonderheft der Schweizerischen Zeitschrift für Politikwissenschaft zum Populismus (Heft 23(4), 2017):

Bild: Newbold Hough Trotter (1827-1898), Wikimedia Commons.