1

Dem Laufgitter entkommen. Frauenforderungen im eidgenössischen Parlament seit 1950

Marlène Gerber, Anja Heidelberger
6th Dezember 2021

Wo steht die Schweiz in punkto Gleichstellung zwischen Frau und Mann? Welche Forderungen konnten seit Einführung des Frauenstimmrechts erfüllt werden, welche neuen Forderungen haben sich ergeben? Der in diesem Sommer erschienene Sammelband «Dem Laufgitter entkommen» beleuchtet die Entwicklung der Frauen- und Gleichstellungspolitik in der Schweiz in den unterschiedlichsten Themenbereichen, indem die Auseinandersetzungen im Parlament und an der Urne seit 1950 nachgezeichnet werden.

1958 schüttelte Iris von Roten die Schweizer Politik mit ihrem Buch «Frauen im Laufgitter – Offene Worte zur Stellung der Frau» durch. Zu dieser Zeit hatten Schweizer Frauen weder ein Stimm- und Wahlrecht noch durften sie nach der Hochzeit ihren Nachnamen behalten. Bei Scheidung erhielten sie nur Alimente, wenn der Eherichter ihnen nicht die Schuld an der Scheidung zuschrieb, eine Vergewaltigung in der Ehe war nicht strafbar, ein Schwangerschaftsabbruch hingegen schon. Bildung und Erwerbstätigkeit hatten für Frauen zweitrangig zu sein, da sie üblicherweise ihre Erwerbstätigkeit spätestens bei der Geburt ihres ersten Kindes aufgaben.

Auch 63 Jahre später ist das Werk von Iris von Roten nach wie vor aktuell: Die rechtliche Gleichstellung ist mittlerweile zwar weitgehend erreicht, die tatsächliche – oder auch substanzielle oder materielle – Gleichstellung hingegen nicht (vgl. Ballmer-Cao 2006; Engeli 2017)

Ein alleiniger Fokus auf die rechtliche Gleichstellung würde ausser Acht lassen, dass sich die gesetzlichen Regelungen aufgrund «unterschiedlicher (geschlechterbedingter) Lebensbedingungen […] unterschiedlich [auf Frauen und Männer] auswirken können» (Kägi-Diener 2006: 4). So lautet die Bilanz nach 50 Jahre Stimm- und Wahlrecht für die Schweizer Frauen, dass sich gewisse Aspekte ihres Lebens seit der Kritik von Iris von Roten nur teilweise geändert haben: etwa die Konzentration von Frauen auf schlecht bezahlte sogenannte «Frauenberufe», die allgemein tieferen Löhne der Frauen, die Aufteilung der entgeltlichen Erwerbs- und der unentgeltlichen Familienarbeit zwischen den Lebenspartnern oder die Untervertretung der Frauen in Führungspositionen, Verwaltungsräten, Geschäftsführungen – sowie häufig auch in der Politik. In diesem Sinne sind die Frauen wohl nach wie vor dabei, dem Laufgitter zu entkommen.

Der im August 2020 erschienene Sammelband beleuchtet die Entwicklung gleichstellungspolitischer Forderungen in 18 Themenbereichen über die Zeit. In sehr vielen dieser Kapitel lautet das Fazit, dass die Erfüllung dieser Forderungen einem Marathon gleicht.

So etwa existiert eine Forderung nach Frauenquoten für die Unternehmensführung seit 1975; Eingang in die Gesetzgebung fand sie 2018. Bereits Ende der 1970er Jahre forderte eine Volksinitiative eine Elternzeit von 9 Monaten. Wo wir heute stehen, ist bekannt. Auch die Individualbesteuerung, wie sie aktuell eine lancierte Volksinitiative fordert, wurde bereits Mitte der 1980er Jahre diskutiert. Erst 60 Jahre nachdem der Schwangerschaftsabbruch im Strafgesetzbuch verboten worden war, gelang 2002 mit der Fristenregelung dessen Legalisierung. Die rechtliche Gleichstellung im Heimat- und im Namensrecht erfolgte gar erst 2013.

Solche und andere Begebenheiten greift der Sammelband auf. Einige davon wurden für die vorliegende DeFacto-Serie als Kostprobe aufbereitet.


 Quelle:

Referenzen:

  • Ballmer-Cao, Thanh-Huyen. 2006. Les politiques publiques de l’égalité entre femmes et hommes. In Peter Knoepfel, Hans-Peter Kriesi, Wolf Linder, Yannis Papadopoulos und Pascal Sciarini (Hrsg.), Handbuch der Schweizer Politik, 4. Auflage. (S. 845–869). Zürich: NZZ Verlag.
  • Engeli, Isabelle. 2017. Politique publique de l’égalité entre femmes et hommes. In Peter Knoepfel, Yannis Papadopoulos, Pascal Sciarini, Adrian Vatter und Silja Häuserman (Hrsg.),Handbuch der Schweizer Politik, 6. Auflage. Zürich: NZZ Libro (889–909).
  • Kägi-Diener, Regula. 2006. Impulse des CEDAW-Übereinkommens für die Gleichstellung im Erwerbsleben insbesondere in der Quotenfrage. AJP/PJA 11/2006.
  • von Rothen, Iris. 1991 [1958]. Frauen im Laufgitter. Offene Worte zur Stellung der Frau. Zürich – Dortmund: eFeF-Verlag.