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Dem Röstigraben auf der Spur

Sean Mueller, Anja Heidelberger
23rd September 2022

Seit gut 100 Jahren wird über den Röschtigraben gesprochen, aber was umfasst er genau? Eine Analyse aller eidgenössischen Abstimmungsresultate auf Gemeindeebene seit 1960 erlaubt es, sein Ausmass, seine Entwicklung und seine möglichen Ursachen besser zu verstehen.

Der Begriff «Röschtigraben» kann erstens als Synonym für die territoriale Grenze zwischen der deutsch- und der französischsprachigen Schweiz schlechthin verstanden werden. Die Saane (frz. Sarine) etwa bildet so eine Grenze.

Zweitens werden damit kulturelle Unterschiede bezeichnet, die zwar durch eine jeweils andere Sprache gekennzeichnet sind, aber eigentlich genauso gut davon losgelöst bestehen könnten. Diese zeigen sich in durchschnittlichen Differenzen zwischen den Sprachregionen in Sachen Vorstellungen zu Arbeit, Familie, Freizeit, Staat etc.

In seiner dritten Bedeutung bezeichnet der Röschtigraben jene Unterschiede in den politischen Ansichten zwischen Romandie und Deutschschweiz, die sich üblicherweise in eidgenössischen Volksabstimmungen manifestieren. Wie bei der zweiten Bedeutung geben hier einzig durchschnittliche Zustimmungsraten in der einen wie der anderen Sprachgruppe den Ausschlag. Diese lassen sich wie bei der ersten Bedeutung aufgrund des Territorialitätsprinzips (cuius regio, eius lingua) geographisch eingrenzen. Auf diese dritte Bedeutung stützen wir uns hier.

Ausmass

Berechnen wir mithilfe der Resultate aller eidgenössischen Abstimmungen seit 1960 für jede Gemeinde die Differenz ihrer Ja-Anteile zum Gesamtresultat der anderen Sprachregion (Abbildung 1), sehen wir erst einmal beträchtliche geographische Unterschiede. So betragen outre-Sarine, also östlich der Sprachgrenze, die höchsten durchschnittlichen Differenzen zur Romandie über alle Abstimmungen hinweg bis zu 27 Prozentpunkte (Unteriberg SZ, Seehof BE, Alpthal SZ). In der Romandie weisen die Gemeinden Lajoux (JU), Saulcy (JU) und Mauraz (VD) die höchste Abweichung (17 bis 18 Prozentpunkte) zu «der» Deutschschweiz auf.

Abbildung 1: Kartographie des Röschtigrabens

 

Quelle: Eigene Darstellung basierend auf BFS (2021). Anmerkung: Gezeigt sind durchschnittliche absolute Differenzen im Abstimmungsverhalten einer Gemeinde zum Gesamtresultat der anderen Sprachregion, 1960–2021 (N= 464 Abstimmungen, ca. 200 Gemeinden)

Die Stärke des Röschtigraben variiert aber nicht nur zwischen den Gemeinden, sondern auch zwischen den Vorlagen. Die höchsten Werte treten im Bereich «Landwirtschaft» (durchschnittlich 16 Prozentpunkte Stimmdifferenz) auf, gefolgt von den Themen Aussenpolitik sowie Bildung und Forschung (je über 14). Am niedrigsten sind die Unterschiede im Bereich öffentliche Finanzen mit unter 10 Prozentpunkten Stimmdifferenz sowie in Wirtschaft und Energie (je 11).

Neben diesen thematischen Unterschieden lässt sich auch eine leichte Abnahme der Stimmdifferenz über die Zeit von durchschnittlich über 16 Prozentpunkten auf gegen 12 Prozent beobachten. Jedoch ist die abnehmende Tendenz grösstenteils auf die hohen Durchschnittswerte in den 1960er Jahren mit jährlichen Spitzenwerten bis 24 Prozentpunkten (1969) zurückzuführen; seither sind die Werte relativ stabil. Im Schnitt ist der Röschtigraben also nicht tiefer geworden.

Abbildung 2: Der Röschtigraben nach ausgewählten Politikbereichen, pro Jahrzehnt

Anmerkung: Liniendiagramm, das die durchschnittliche (absolute) Abweichung aller Gemeinden zu Abstimmungen ausgewählter Themenbereiche über die Jahrzehnte zeigt
Mögliche Erklärungen

Was erklärt diese starken territorialen und thematischen Unterschiede? Einen ersten Ansatz bildet die Sprache selber. So lassen sich an sprachlichen immer auch gewisse kulturelle Unterschiede festmachen. Sind diese für den Röschtigraben (mit-)verantwortlich, sollte der Anteil französischsprachiger (bzw. deutschsprachiger) Personen in einer Gemeinde deren Unterschied zur Deutschschweiz (bzw. Romandie) vergrössern.

Zweitens könnten gewisse Unterschiede in den Haltungen der Romandie gegenüber der Deutschschweiz auf die Nähe zu Frankreich zurückgeführt werden. Frankophone hätten vor allem andere politische Präferenzen als Germanophone, wenn diese durch die Nähe zu Frankreich «hinübergeschwappt» sind oder verstärkt werden. In diesem Fall müssten Gemeinden der Romandie umso stärker vom Deutschschweizer Abstimmungsverhalten abweichen, je näher sie sich an der Grenze zu Frankreich befinden.

Eine dritte Erklärung für das Auftreten des Röschtigrabens bezieht sich auf den Status der Romandie als demografische Minderheit. Damit können einerseits bestimmte Ängste einhergehen, z. B. vor einer wirtschaftlichen, kulturellen oder politischen Dominanz der Mehrheit. Andererseits wären damit auch bestimmte Wünsche verbunden, z. B. nach staatlichen Unterstützungsmassnahmen zum Erhalt der Sprache etwa im Medien- und Kulturbereich.

Viertens folgt die Sprachgrenze in der Schweiz bekanntlich gerade nicht den Kantonsgrenzen bzw. nicht immer. Verschiedene innerkantonale Gemeinsamkeiten – Parteien, Persönlichkeiten, Schulen oder staatliche Leistungen – könnten somit zwischensprachliche Unterschiede dämpfen oder ganz zum Verschwinden bringen.

Als Letztes könnte auch die räumliche Nähe zur anderen Sprachregion mit einer personellen und mentalen Verbundenheit einhergehen, eventuell gar mit entsprechenden Auswirkungen auf die politischen Präferenzen. Somit sollten sowohl Sprachgrenz- wie auch Gemeinden aus zweisprachigen Kantonen geringere Differenzen zur anderen Sprachregion aufweisen als Gemeinden aus einsprachigen Kantonen und solche, die weiter von der Sprachgrenze entfernt liegen.

Ergebnisse

Tabelle 1 zeigt die Resultate unserer Mehrebenen-Modelle (für Details siehe Buchkapitel).

Tabelle 1: Erklärungen für die Stimmdifferenz zur anderen Sprachregion (Auszug der Resultate)

  Modell
Romandie
Modell
Deutschschweiz
Anteil Französischsprachige (log) 0,72***
(0,04)
 
Anteil Deutschsprachige (log)   0,00
(0,03)
Einkommen pro Kopf
(in CHF 1'000, log)
–0,01
(0,01)
–0,02
(0,02)
Zweisprachiger Kanton
(RK: einsprachiger Kanton)
0,35
(2,21)
–7,73***
(1,55)
Distanz zur Sprachgrenze
(in Std.)
3,43***
(0,66)
–1,85***
(0,49)
Distanz zur Landesgrenze
(in Std.)
–13,96***
(1,54)
–1,31
(1,02)
N: Fälle
N: Gemeinden.
N: Vorlagen
281'014
635
463
620'746
1'417
463
Marg. R2 /
Kond. R2
0,131 /
0,248
0,178 /
0,316
AIC 792'465 1'673'137
* p<0.05 ** p<0.01 *** p<0.001.

Quelle: Eigene Berechnungen mit Daten von BFS (2021), log=logarithmiert. Koeffizienten der Kontrollvariablen nicht aufgeführt.

 

In der Romandie sind die Unterschiede zur Deutschschweiz dort am grössten, wo anteilsmässig mehr Frankophone wohnen, und je weiter weg von der Sprachgrenze bzw. je näher an der Grenze zu Frankreich sich eine Gemeinde befindet.

In der Deutschschweiz dagegen sind die Unterschiede zur Romandie umso grösser, je näher an der Sprachgrenze sich eine Gemeinde befindet. Der Anteil Deutschsprachiger und die Distanz zur Grenze mit deutschsprachigen Nachbarländern haben keinen signifikanten Einfluss.

In beiden Regionen sind die Unterschiede zur jeweils anderen Sprachregion kleiner in zweisprachigen Kantonen, was wir auf institutionalisierte gemeinsame Kontakte zurückführen. Wirtschaftliche Faktoren spielen nirgends eine Rolle; dagegen sind die Unterschiede in grösseren Gemeinden eher geringer.

Fazit

Insgesamt gibt es somit zwar teils grosse und signifikante Unterschiede zwischen den Sprachregionen, der Röschtigraben wird aber wohl kaum zum Grab der Schweiz werden – wie von den Medien gemeinhin befürchtet wird.

Erstens bestehen hüben wie drüben verbindende Faktoren in Form von Wirtschaftskraft, Religion oder Urbanisierung. Zweitens fehlt eine politische Organisation der sprachregionalen Unterschiede à la Scottish National Party – und wird auch kaum entstehen, denn paradoxerweise führt gerade die direkte Demokratie dazu, dass alle Organisation in der ganzen Schweiz – nicht nur in einzelnen Regionen – auf Stimmenfang gehen. Drittens bewohnen die Schweizer Frankophonen nicht bloss eine einzige, staatsrechtlich anerkannte Communauté française wie etwa in Belgien, sondern verteilen sich auf vier offiziell ein- und drei zweisprachige Kantone.

Schliesslich ist die Deutschschweiz oftmals intern heterogener als gegenüber den anderen Sprachregionen: Die zahlreichen Stolpersteine zur Einführung des Lehrplan 21 lassen grüssen. Somit bleibt der Röschtigraben eine zwar wichtige und punktuell gar entscheidende politische Kluft. Er wirkt aber gerade auch als Warnung vor dem Abgrund einigend.


Hinweis: Dieser Beitrag ist die schriftliche Kurzfassung des Buchkapitels «Den Röschtigraben vermessen: Breite, Tiefe, Dauerhaftigkeit», in: Schaub Hans-Peter/Bühlmann Marc (Hrsg.). Direkte Demokratie in der Schweiz. Direkte Demokratie in der Schweiz, Neue Erkenntnisse aus der Abstimmungsforschung. Zürich: Seismo. S. 137 – 158.

Bild: wikimedia commons