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Landsgemeindedemokratie jenseits von Stolz und Vorurteil

Hans-Peter Schaub
9th Juni 2023

Oft prägen Zerrbilder die Wahrnehmung der Versammlungsdemokratie. Bei einer nüchternen Betrachtung zeigen sich sowohl Stärken als auch Schwächen dieser faszinierenden Demokratieform.

An den Landsgemeinden in Appenzell und Glarus kommen jeden Frühling tausende Stimmberechtigte zusammen, um über die Geschicke ihres Kantons zu entscheiden. Es sind die wohl grössten Bürger:innenversammlungen weltweit, und sie gehören zum Faszinierendsten, was die Demokratie zu bieten hat.

Doch oft mischt sich die Faszination mit Mythen und Vorurteilen. Während einige die Landsgemeinde als ideale Form der Demokratie überhöhen, verachten andere sie als scheindemokratische Veranstaltung von Ewiggestrigen. Neuere Studien erlauben eine nüchternere Betrachtung.

Wer herrscht?

Die Volksrechte reichen in den Landsgemeindekantonen einzigartig weit. Nirgends hat das Stimmvolk so viele Wahlkompetenzen wie in Innerrhoden, nirgends werden ihm derart viele Sachgeschäfte vorgelegt wie in Glarus. Für eine Volksinitiative genügt in beiden Kantonen ein:e einzige:r Stimmberechtigte:r, und in Glarus kann jede:r Einzelne an der Landsgemeinde auch noch Änderungen zu jeder Vorlage zur Abstimmung bringen.

Am Ende aber folgt die Landsgemeindemehrheit meist doch den Behörden. Seit über 20 Jahren wurde in Glarus nur eine Initiative gegen den Willen des Parlaments unverändert angenommen. Insgesamt segnet die Landsgemeinde gut 90 Prozent aller Vorlagen im Sinn des Parlaments ab, 7 Prozent kommen in veränderter Form durch, bei weniger als 2 Prozent der Vorlagen läuft das Parlament ganz auf (Schaub i.E.).

Die Vorstellung also, mit der Landsgemeinde werde eine pure Volksherrschaft verwirklicht, ist ein Mythos. Auch in Glarus sind es die Behörden, die die Gesetze prägen. Die Stimmbürgerschaft nimmt nur – aber immerhin – punktuell Justierungen vor und zieht in Ausnahmefällen die Notbremse. Ihre grösste Wirkung entfaltet die Landsgemeinde insofern nicht im Ring, sondern im Rathaus: Sie zwingt die Behörden dazu, sich schon bei der Ausgestaltung der Vorlagen zu überlegen, was vor dem Stimmvolk Bestand haben könnte.

Wer bestimmt die Meinungsbildung?

Ein gewaltiger demokratischer Vorteil der Landsgemeinde liegt darin, dass sie nicht erst bei der Abstimmung, sondern schon bei der vorgängigen Meinungsbildung allen eine gleiche Mitsprache ermöglicht: Der Abstimmungskampf mündet hier in eine Debatte vor Ort, bei der jede:r das Wort ergreifen kann und von allen Abstimmenden gehört wird. Weder Geld noch Beziehungen sind dafür nötig.

Besonders in Glarus wird dieses Rederecht sehr intensiv genutzt. Auch hier gibt es vorgängige Abstimmungskämpfe, doch die Voten im Ring haben Gewicht: Laut einer Umfrage zu zwei umstrittenen Glarner Vorlagen bildete sich jede:r dritte Abstimmende erst während der Debatte ihre:seine Meinung, und mehr als jede:r zehnte stiess ihre:seine vorherige Stimmabsicht noch um. Sogar mehr als die Hälfte der Befragten vernahm in den Reden noch neue Argumente, und zwar jeweils sowohl für die Pro- als auch für die Kontra-Seite (Gerber et al. 2016).

Allerdings: Ob das Rederecht effektiv für alle gleich zugänglich ist, erscheint zumindest mit Bezug auf das Geschlecht fraglich. Denn sowohl in Glarus als auch in Appenzell kommt bis heute nicht einmal jede fünfte Landsgemeinderede von einer Frau (Gerber et al. 2019; Schaub i.E.). Realitätsfern ist sodann die Vorstellung, dass das Rederecht nur «einfachen» Bürger:innen zugutekomme. Zumindest in Glarus treten die meisten Redner:innen als Vertreter:innen von Parteien, Organisationen oder Behörden auf (Schaub 2016).

Wer stimmt ab?

Die Stimmabgabe ist an der Landsgemeinde nur zu einer fixen Zeit und an einem fixen Ort möglich. Zusammen mit der mehrstündigen Versammlungsdauer führt dies dazu, dass die Stimmbeteiligung an den Landsgemeinden niedrig ausfällt – viel niedriger als bei vergleichbaren Urnenabstimmungen: In Innerrhoden erreicht sie gegen 30 Prozent, in Glarus im Schnitt wohl nur 10 Prozent (Schaub/Leuzinger 2018).

Problematischer als die niedrige Beteiligung wäre jedoch eine sozioökonomisch ungleiche Partizipation, weil dann eine Verzerrung der Mehrheitsverhältnisse drohte. Diesbezüglich ist das Bild gemischt: Einerseits sind gemäss Umfragen (Gerber et al. 2016; Rochat/Kübler 2021) an der Glarner Landsgemeinde Zugezogene, Nichtakademiker:innen und unter den Älteren auch Frauen untervertreten. Hingegen scheinen Wenig- wie Vielverdiener:innen, Junge wie Alte, Linke wie Rechte gleichermassen teilzunehmen – was bemerkenswert ist, zumal Geringverdiener:innen und Junge bei Urnenabstimmungen notorisch untervertreten sind. Positiv wirkt sich hier möglicherweise aus, dass ein Landsgemeindebesuch auch mit einem sozialen Ereignis verbunden ist: Man stimmt nicht nur ab, sondern trifft auch Bekannte, geht danach gemeinsam essen und trinken oder besucht den Jahrmarkt.

Wie viel sozialer Druck besteht?

Als schwerwiegendsten Nachteil der Landsgemeinde sehen viele, dass nicht geheim, sondern mit Handerheben abgestimmt wird. Es ist unbestritten, dass manche sich deswegen beim Abstimmen unfrei fühlen und andere prophylaktisch zu Hause bleiben. Wie hoch ihr Anteil ist, ist jedoch kaum verlässlich zu eruieren.

Mit technischen Mitteln liesse sich eine geheime Stimmabgabe in der Versammlung grundsätzlich realisieren. Manche sehen in der offenen Stimmabgabe indessen auch Vorteile. So empfanden laut einer Umfrage die meisten, die schon von Mitbürger:innen auf ihr Stimmverhalten angesprochen wurden, das folgende Gespräch positiv (Mueller et al. 2021). In grundsätzlicherer Hinsicht lässt sich argumentieren, die öffentliche Stimmabgabe sei nichts als angebracht bei Entscheiden über öffentliche Angelegenheiten – und eine allfällige Rechtfertigung nicht zu viel verlangt von Bürger:innen, die über das Schicksal anderer mitentscheiden. An seine Grenzen stösst dieses Argument indessen dort, wo starke soziale oder ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse bestehen.

Welches ist die Mehrheit?

Das Verblüffendste für viele Aussenstehende kommt aber erst am Schluss des Abstimmungsprozederes: Der Landammann oder die Frau Landammann, zugleich Regierungsvorsitzende:r, bestimmt die Stimmenmehrheit durch optische Schätzung. In Appenzell kann er:sie auszählen lassen, tut dies aus Zeitgründen aber nur in wirklich unklaren Fällen. Wie sich dabei zeigte, ist die Mehrheit erst ab etwa 60 zu 40 Prozent stets klar erkennbar (Helg 2007). In Glarus, wo die Verfassung eine Auszählung ausschliesst, wird also möglicherweise bisweilen ein Stimmenanteil von 40 Prozent zur Mehrheit erklärt.

Zwar deutet nichts darauf hin, dass die Landammänner ihre Schätzkompetenz missbrauchen würden. Bei knappem Ausgang wird im Schnitt etwa jedes zweite Mal die Behördenseite zur Mehrheit erklärt (Schaub i.E.) – eine Quote wie bei einem Münzwurf. Dennoch ertönen nach knappen Entscheiden regelmässig Stimmen, die die Unbefangenheit der Schätzung in Frage stellen. In Glarus und Innerrhoden stiessen diese bisher nie auf Widerhall, doch in Appenzell Ausserrhoden hat eine solche Diskussion zur Abschaffung der Landsgemeinde beigetragen (Schaub 2016). Gerade für Landsgemeindeanhänger:innen erschiene es deshalb als Gebot der Klugheit, die Mehrheit nicht länger durch den Landammann – als Regierungsvorsitzende:r und Parteipolitiker:in politisch maximal exponiert –, sondern durch ein unverdächtigeres Gremium von gewählten Stimmenschätzer:innen oder durch technische Hilfsmittel ermitteln zu lassen.

Nicht alle Nachteile der Versammlungsdemokratie wären durch so einfache Reformen zu beheben. Sie gegen die Vorteile abzuwägen, ist Sache der Glarner:innen und Appenzeller:innen. Wertvoll sind die Landsgemeinden aber auch für alle anderen: Als faszinierender Kontrastpunkt zum Urnenmodell helfen sie, umgekehrt auch über dessen Stärken, Schwächen und Reformpotenziale nachzudenken.


Hinweis: Dieser Beitrag ist eine ausgebaute Fassung eines Artikels, der am 4. Mai 2023 als Gastbeitrag in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen ist.

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Bild: flickr.com