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Berufsbildung unter Reformdruck: Attraktiv in der Schweiz, zunehmend marginalisiert in Deutschland 

Patrick Emmenegger, Scherwin Michael Bajka, Cecilia Ivardi Ganapini
29th August 2023

Berufsbildungssysteme sind in den letzten dreissig Jahren stark unter Druck geraten. Gründe dafür sind der technologische Wandel sowie wirtschaftliche Entwicklungen, welche die Anforderungen an Fachkräfte kontinuierlich ansteigen lassen. Dieser Artikel geht der Frage nach, wie die Schweiz im Vergleich zu Deutschland auf diese Herausforderung reagiert. 

In Wissensgesellschaften müssen Bildungssysteme laufend reformiert werden, weil sich die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes stetig wandeln. Diese von Unternehmen angetriebene Entwicklung geschieht oft schneller, als sich Bildungsinstitutionen ihr anpassen können. Da die Wirtschaft aber auf gut ausgebildete Fachkräfte angewiesen sein wird, kann daraus leicht ein Fachkräftemangel resultieren.

Schweiz und Deutschland im Vergleich 

Die Schweiz und Deutschland sind international für ihre qualitativ hochstehenden Berufsbildungssysteme bekannt. Allerdings reagieren die beiden Länder unterschiedlich auf diese Herausforderung. Unsere Analyse zeigt in einem Vergleich auf, welchen Weg diese zwei Länder eingeschlagen haben.

Abnehmende Relevanz der Berufsbildung in Deutschland

Der Vergleich der deutschen und schweizerischen Reformen zeigt, dass die Berufsbildung in Deutschland an Bedeutung eingebüsst, während sie in der Schweiz kaum an Attraktivität verloren hat. Symptomatisch hierfür ist beispielsweise die schwach ausgebaute höhere Berufsbildung in Deutschland. Im Gegensatz dazu sind die deutschen Universitäten und Fachhochschulen gewachsen, wobei die Mehrheit der Fachhochschulstudierenden ebenfalls aus allgemeinbildenden Schulen stammt. Berufsbildende Inhalte haben derweil Eingang in die deutschen Hochschulen gefunden. Mittlerweile besuchen zahlreiche Studierende ein sogenanntes duales Studium, welches Praxisphasen in einem Betrieb mit einem Studium an einer Hochschule kombiniert.

Nicht nur die Tertiärstufe, sondern auch allgemeinbildende Schultypen auf Sekundarstufe verzeichnen in Deutschland hohe Zuwachsraten. Hat 1975 noch rund ein Viertel aller Jugendlichen eine allgemeinbildende Schule auf Sekundarstufe II besucht, liegt der Anteil heute bei rund vierzig Prozent. In der Schweiz hingegen liegt dieser Anteil heute bei knapp dreissig Prozent. Aber nicht alle Abiturient_innen finden ihren Weg an eine Hochschule.

Mittlerweile sind rund dreissig Prozent aller Auszubildenden in der Berufsbildung Abiturient_innen. Dies ist in der Schweiz nicht der Fall, wo es die Ausnahme bleibt, dass Maturand_innen eine Lehre beginnen. Des Weiteren wurde in Deutschland aufgrund der wachsenden Ansprüche an die Auszubildenden und der abnehmenden Ausbildungstätigkeit deutscher Firmen ein Übergangssystem eingeführt. Dieses kümmert sich um die zahlreichen Jugendlichen, die keine Ausbildungsstelle finden konnten. 

Anhaltende Attraktivität der Berufslehre in der Schweiz

Im Vergleich zu Deutschland hat sich die Schweiz im gleichen Zeitraum intensiv darum bemüht, die Berufsbildung für Jugendliche und Firmen attraktiv zu halten. Infolge der Einführung der Berufsmatura und den Fachhochschulen ermöglicht die Berufsbildung heute einen direkten Zugang zu einer tertiären Ausbildung.

Heute erhalten rund vierzig Prozent aller Maturand_innen eine Berufsmatura. Nicht zuletzt dank der Berufsmatura verfügen heute fast sechzig Prozent aller Studierenden an Schweizer Fachhochschulen über einen Berufsbildungsabschluss. Parallel wurde in der Schweiz die höhere Berufsbildung stark ausgebaut.

Der Anteil der Absolvent_innen einer beruflichen Ausbildung, die anschliessend einen weiteren Bildungsabschluss in der höheren Berufsbildung erwerben, ist von rund 25 Prozent im Jahr 2000 auf mittlerweile vierzig Prozent gestiegen. Heute wird fast jeder zweite Abschluss auf Tertiärstufe im Rahmen der höheren Berufsbildung erworben. Zur anhaltenden Attraktivität der Berufsbildung in der Schweiz hat auch beigetragen, dass alle nicht-akademischen Ausbildungen in die Berufsbildung aufgenommen wurden und damit die Rolle der Berufsbildung gerade auch im wachsenden Dienstleistungssektor gestärkt wurde.

Spielraum für Innovationen, starke Präsenz von KMU

Wie lassen sich diese unterschiedlichen bildungspolitischen Entwicklungen erklären? Zweifelsohne tragen verschiedene Faktoren dazu bei, die Unterschiede zwischen Deutschland und der Schweiz zu erklären. Im Folgenden möchten wir aber zwei Faktoren besonders hervorheben. Erstens lässt das Schweizer Berufsbildungssystem den Betrieben und den Organisationen der Arbeitswelt (OdA) vergleichsweise viel Spielraum.

OdAs sind für die Ausbildungen verantwortlich. In dieser Funktion definieren sie Lerninhalte, entwickeln neue Ausbildungsprogramme und passen die Ausbildung an die Bedürfnisse der Firmen an. Zudem gibt es keine nationalen Regulatorien für Berufsverbände, welche die Wirkungskraft der OdAs einschränken könnten. Dies steht im Gegensatz zum hierarchischeren und strukturierteren deutschen System. Diese Flexibilität erhöht die Innovations- und Anpassungsfähigkeit des Schweizer Berufsbildungssystems.

Zweitens spielen im Schweizer Berufsbildungssystem kleine und mittlere Unternehmen (KMU) eine deutlich grössere Rolle als in Deutschland. Rund vierzig Prozent der Schweizer Lernenden arbeiten in Betrieben mit neun oder weniger Mitarbeitenden, während in Deutschland nur 15 Prozent der Auszubildenden in solchen Unternehmen arbeiten. Kleine Betriebe haben ein weit grösseres Interesse an einer starken Berufsbildung, da sie im Gegensatz zu grösseren Unternehmen nur schwer auf dem externen Arbeitsmarkt rekrutieren können und auch nicht betriebseigene Ausbildungsprogramme oder Kooperationen mit Hochschulen aufbauen können. Die KMU sind damit die stärkste Lobby für ein attraktives Berufsbildungssystem. Jedoch bleibt die Schweizer Berufsbildung aufgrund Ihrer Flexibilität und Innovationskraft auch für grosse Betriebe und damit letztlich auch für Jugendliche attraktiv.


Referenz:

Bild: Unsplash