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Herr Leemann, wie zuverlässig sind Wahlprognosen?

Lucas Leemann, Redaktion DeFacto
25th September 2023

Im Wahljahr werden regelmässig Umfragen durchgeführt, um den aktuellen Stand der Gunst der Parteien in der Schweizer Bevölkerung in Erfahrung zu bringen. Solche Umfragen münden in Prognosen über Erfolg oder Misserfolg der Parteien bei den Wahlen. Lucas Leemann erklärt die Rolle von Wahlprognosen und zeigt auf, wie verlässlich diese sind.

Lucas Leemann: Zunächst einmal ist es wichtig festzuhalten, dass die Umfragen an sich keine Prognosen sind. Eine Prognose würde sich auf Umfragedaten stützen aber auch weitere Elemente, wie bspw. historische Wahlergebnisse in den Kantonen und frühere nationale Wahlergebnisse miteinschliessen. Ein solches Instrument würde auf Basis dieser verschiedenen Daten mit einem statistischen Modell dann versuchen das Ergebnis am Wahlsonntag vorherzusagen. Umfragen sind ein wichtiges Element einer solchen Vorhersage, aber Umfragen alleine sind keine Vorhersagen.

Was die Umfragen uns geben, ist ein aktuelles Stimmungsbild. Welche Themen sind wichtig, welche Themen sind welchen Wähler*innen wichtig? Solche Fragen kann eine Umfrage beantworten. Das sind wichtige Informationen. Nehmen wir bspw. das Frühlings- und Sommerthema „wokeness“, dem medial viel Platz eingeräumt wird. In einer Umfrage im Mai 2023 haben nur gerade 13% angegeben, dass es sich um ein drängendes Problem handelt. Die Wahlumfragen zeigen dann auch, dass die drängendsten Probleme bei den Gesundheitskosten, der Altersvorsorge und der Migration zu suchen sind (Umfrage Juni 2023). Das unterscheidet sich nach Partei – Wähler*innen der beiden grünen Parteien sehen den Klimawandel als wichtigstes Problem, Die Gesundheitskosten sind das drängendste Problem für die SP, die Mitte und die FDP und nur bei den Anhänger*innen der SVP ist die Migration das wichtigste Problem.

Wie werden Wahlumfragen erstellt?

In der Schweiz werden öffentliche Wahlumfragen von Medien finanziert. Auf der einen Seite die SRG und auf der anderen Seite die Tamedia und 20min. Das sind öffentliche Umfragen, da die Resultate allen zugänglich gemacht werden. Daneben können Parteien oder Verbände natürlich auch weitere Umfragen machen, die aber normalerweise nicht öffentlich publiziert werden.

Der genaue Prozess unterscheidet sich je nach Umfrageinstitut und Auftraggeberin aber allen ist gemein, dass sie versuchen eine Stichprobe zu erreichen und diese nachher so zu bearbeiten, dass sie repräsentative Aussagen über die Bevölkerung machen können.

Was sind die grössten Schwierigkeiten beim Durchführen von Wahlumfragen?

Man könnte meinen, dass das ein trivialer Prozess ist – man erhebt eine Stichprobe, fragt die Teilnehmenden nach ihrer Wahlabsicht und berechnet dann die Wahlanteile et voilà, die Umfrageergebnisse stehen. Ganz so einfach ist das nicht. Stichproben haben Verzerrungen, bspw. antworten gewisse Bevölkerungsgruppen öfter als andere und deshalb kann man nicht einfach die Stichprobe wie eine Bevölkerung „à la miniature“ betrachten. Man muss mit Hilfe von Gewichtungen oder Modellierungen diese Verzerrung zu beheben versuchen.

Eine weitere Schwierigkeit liegt auch darin, dass man nicht weiss, wer denn tatsächlich an den Wahlen teilnimmt. Einerseits finden viele Umfragen vor der heissen Mobilisierungsphase statt und andererseits ist die beabsichtigte Teilnahme sehr schwer in Umfragen messbar (siehe bspw. hier).

Und dann kommt noch eine generelle Schwierigkeit dazu – unser Wahlsystem ist nicht so gestaltet, dass die Stimmenverhältnisse perfekt in Sitzverhältnisse übersetzt werden. Teilweise kann das auch so weit gehen, dass eine Partei leicht Anteile verliert aber am Ende doch noch einen Sitz gewinnt – jüngst war das bei der GLP im Kanton Zürich der Fall. Diese Übersetzung von Stimmen in Sitze sind ebenfalls nicht Teil von Wahlumfragen.

Erwarten Sie auch für die anstehenden Wahlen Überraschungen (wie z.B. der starke Gewinn der Grünen 2019), welche von den Prognosen nicht vorausgesagt wurden?

Eher nicht. Im Moment scheint es als würden die grossen Gewinnerinnen und Verliererinnen von 2019 jeweils wieder etwas verlieren, resp. gewinnen. In diesem Zusammenhang haben Kommentatorinnen auch schon das Bild eines Pendels verwendet. Die Grünen haben sehr stark zugelegt 2019 und wenn die Umfragen richtig liegen, dann werden sie einen Teil dieses Zugewinns wieder abgeben. Bei der SVP verhält es sich genau umgekehrt.


Lucas Leemann

Lucas Leemann studierte Politikwissenschaft an der Universität Bern und doktorierte an der Columbia University in New York. Seit 2022 ist er ausserordentlicher Professor für Vergleichende Politik und empirische Demokratieforschung an der Universität Zürich. Neben der vergleichenden Politik, demokratischen Institutionen und Repräsentation befasst er sich im Bereich der Datenwissenschaft auch mit Umfragemethodik, Modellierung und maschinellem Lernen.

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Bild: unsplash.com