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Herr Strijbis, was ist ein Prognosemarkt?

Oliver Strijbis, Redaktion DeFacto
4th Oktober 2023

Prognosemärkte erfreuen sich als Methode zur Wahlprognose immer grösserer Beliebtheit. Doch was ist ein Prognosemarkt genau und wie zuverlässig sind die Prognosen von Prognosemärkte? Oliver Strijbis leitet verschiedene Prognosemärkte. Er erklärt die Vor- und Nachteile dieser Methode.

Sie organisieren Prognosemärkte im Vorfeld von Wahlen. Was muss man sich darunter vorstellen?

Oliver Strijbis: Eine Wahlbörse funktioniert wie eine Finanzbörse – mit dem Unterschied, dass keine Unternehmens-Aktien, sondern Aktien künftiger Ereignisse gehandelt werden. Ein Ereignis wäre in unserem Beispiel, Daniel Jositsch (SP) und Regine Sauter (FDP) werden in den Ständerat gewählt. Wenn dieses Ereignis zutrifft, so erhält jede Aktie den Schlusspreis von 100 Spielfranken. Wenn das Ereignis nicht zutrifft, dann liegt der Schlusswert bei null Spielfranken. Die Teilnehmenden haben daher einen Anreiz, Aktien gemäss ihren Erwartungen über die Eintrittswahrscheinlichkeit zu handeln. Wenn der aktuelle Preis beispielsweise bei 50 Spielfranken liegt, ich aber denke, dass die Wahrscheinlichkeit für dieses Ereignis höher als 50% ist, so sollte ich diese Aktie kaufen. Dies ist nichts anderes als eine Wette, weshalb Prognosemärkte auch Wettbörsen genannt werden.

Wer nimmt am Prognosemarkt teil?

Aktuell sind 300 Personen auf der Wahlbörse registriert. Davon haben bereits über 180 Aktien gekauft oder verkauft. Die meisten Teilnehmenden sind ehemalige oder aktuelle Studierende der Politikwissenschaft, viele von der Universität Zürich, einige aber auch von anderen Schweizer Universitäten. Indem viele Personen mit überdurchschnittlichem Wissen teilnehmen, kombiniert der Markt damit Aspekte des Expertenwissens mit der Schwarmintelligenz.

Gibt es nicht voraussehbare Effekte bzw. starke Beeinflussung der Teilnehmenden am Prognosemarkt? Beispielsweise nach der Publikation von Wahlumfragen auf grossen Medienplattformen?

Bei Wahlen sind Umfragen die wichtigste Informationsquelle und entsprechend fliesst diese Information in die Wetten der Teilnehmenden auf dem Prognosemarkt. Die Vorhersagen zu den Nationalratswahlen, für die es einige Umfragen gibt, kann daher als eine Art Interpretation der Umfragewerte betrachtet werden. Bei den Ständeratswahlen sieht das anders aus. Hier gibt es nicht nur wenige Umfragen, diese sind für das Wahlergebnis auch weniger aussagekräftig. Denn bei den Wahlen ins „Stöckli“ dürfte es in vielen Kantonen zu einem zweiten Wahlgang kommen. Dann spielt eine grosse Rolle, welche Kandidierenden sich zurückziehen und auf welche der aussichtsreichen Kandidierenden sich die Stimmen konzentrieren. Auf dem Prognosemarkt versuchen die Teilnehmenden diese Dynamik zu antizipieren.

Welche Vorteile bieten Prognosemärkte im Vergleich zu herkömmlichen Wahlumfragen und was unterscheidet sie?

Prognosemärkte erstellen Vorhersagen, Umfragen streng genommen nicht. Der wichtigste Vorteil von Prognosemärkten ist, dass sie auf viele Fragen angewendet werden können, für die es keine Umfragen gibt (wie bei Ständeratswahlen in vielen Kantonen) oder für die Umfragen gar nicht relevant sind. Das ist zum Beispiel für die Vorhersage von internationalen Konflikten der Fall, wofür ebenfalls Prognosemärkte angewendet werden. Die Logik von Prognosemärkten ist also eine völlig andere als jene von Umfragen. Während es bei Umfragen darum geht es ein repräsentatives Meinungsbild zu erstellen, geht es bei Prognosemärkten darum, basierend auf bestehender Information möglichst genaue Vorhersagen zu machen.

Welche Einschränkungen und Herausforderungen treten bei Prognosemärkten auf?

Die Qualität der Vorhersagen hängt stark davon ab, wie viele und relevante Informationen vorhanden sind. Auch hilft es, wenn die Teilnehmenden einen finanziellen Anreiz haben, damit sie die Börse ernst nehmen und möglichst gut zu handeln versuchen. Wenn man den Teilnehmenden aber einen Anreiz zur Verfügung stellt – bei mir erhalten alle Teilnehmenden 20 CHF Startguthaben – dann generiert der Markt Kosten, die gedeckt sein wollen.

Und, was sagt Ihr Prognosemarkt im Hinblick auf die anstehenden Wahlen in der Schweiz?

Die Vorhersagen können täglich aufdatiert bei Watson eingesehen werden. Beim Nationalrat entspricht die Vorhersage in etwa den Umfragen – Verluste bei den Grünen, leichte Gewinne bei SVP und Die Mitte. Bei den Ständeratswahlen sagt der Markt aktuell die Verschiebung von 2 Sitzen von SP/Grünen zu den bürgerlichen Parteien voraus. Dabei ist aber sehr unsicher, welche der bürgerlichen Parteien profitieren könnte.


Oliver Strijbis

Oliver Strijbis studierte an den Universitäten Amsterdam, Bologna und Zürich Politikwissenschaften und doktorierte an der Universität St. Gallen. Heute ist er Associate Professor an der Franklin University Switzerland in Lugano. Seine Forschungsinteressen sind im Bereich der politischen Verhaltensforschung, Nationalismus und Migration. Sein Fokus liegt daneben auch auf den Prognosemärkten.

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Bild: unsplash.com