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Frau Zollinger, wo liegt das Potenzial der SP?

Delia Zollinger, Redaktion DeFacto
20th Oktober 2023

Bei den letzten Wahlen vor vier Jahren gehörte die SP zu den Verliererinnen, während ihre linke Konkurrenz, die Grüne Partei, stark zulegen konnte. Delia Zollinger hat gemeinsam mit anderen Forschenden die SP Schweiz untersucht. Sie erklärt, wie es um die grösste linke Partei im Land steht und wagt eine Prognose.

Gemäss den aktuellen Umfragen wird die SP bei den Wahlen gewinnen, während die Grünen verlieren. 2019 war es gerade umgekehrt, wie kann dieser Wandel erklärt werden?

Delia Zollinger: Die SP und die Grünen positionieren sich zu vielen verteilungs- und gesellschaftspolitischen Themen nahezu deckungsgleich. Den beiden Parteien wird aber von der Wählerschaft in unterschiedlichen Bereichen eine hohe Kompetenz zugesprochen. Während die Grünen sich demnach klar als Klima- und Umweltpartei profilieren können, wird die SP in der Sozial- und Migrationspolitik als besonders kompetent erachtet. Die aktuelle Themenkonjunktur begünstigt innerhalb des linken Lagers eher die SP. 2019 dominierte der Klimawandel die politische Agenda und die Sorgen der Wähler:innen. 2023 sind es nun eher auch Themenbereiche, die mit der SP und weniger mit den Grünen assoziiert werden, etwa Migration oder steigende Krankenkassenprämien.

Verschiebungen innerhalb des rot-grünen Lagers sind nicht überraschend, wenn man sich anschaut, wie stark die sogenannten „Wählerpotenziale“ der SP und der Grünen überlappen. Viele SP-Wähler:innen können sich sehr gut vorstellen, auch mal die Grünen zu wählen und umgekehrt. Gemäss Umfragen waren es 2019 über 70 Prozent der jeweiligen Parteiwählerschaften, für die auch die andere Partei in Frage kam.

Von wem wird die SP vorwiegend gewählt? Wie unterscheidet sich die Wählerschaft zwischen der SP und den Grünen?

Die Wählerschaft der SP gehört heute vorrangig der gut qualifizierten Mittelschicht an und sie ist städtisch geprägt. Insbesondere Leute in hochqualifizierten Dienstleistungsberufen (etwa Sozialarbeiter:innen, Lehrer:innen oder Pflegefachkräfte) sind in der SP-Wählerschaft übervertreten. Mit Blick auf diese Merkmale gleichen sich die Wählerschaften der Grünen und der SP. Das SP-Elektorat ist zudem älter als die Stimmbevölkerung im Durchschnitt. Die Wählerschaft der Grünen ist bisher im Vergleich jünger, weiblicher und noch etwas hochgebildeter.

Welchen Einfluss hat die Polarisierung des Parteiensystems der Schweiz auf den Erfolg der SP (auch im internationalen Vergleich)?

Die SP Schweiz konnte unter anderem deswegen ihre Wähleranteile über die letzten Jahrzehnte besser halten als andere sozialdemokratischen Parteien in Europa, weil sie sich früh und dezidiert progressiv zu neu aufkommenden gesellschaftlichen Konflikten positioniert hat. Es sind genau diese Arten gesellschaftlicher Konflikte, zum Beispiel um Migration oder Gleichstellung, die der Polarisierung des Schweizer Parteiensystems zugrunde liegen.

Die klare Positionierung am Gegenpol zur SVP hat es der SP erlaubt, eine wachsende höhergebildete Mittelschicht anzusprechen, während ihre traditionelle Wählerschaft in der industriellen Arbeiterschaft aus strukturellen Gründen schwand. Diese neue Mittelschicht holt sie mit verteilungs- und gesellschaftspolitisch linken Positionen ab. Sie teilt sich heute mit den Grünen ein Wählersegment, das in manchen anderen Ländern grüne Parteien alleine besetzen konnten.

Sind die Grünen eher eine gute Partnerin der SP oder eher Konkurrenz?

Im Wahlkampf rückt in den Vordergrund, dass die beiden Parteien um ähnliche Wählersegmente konkurrieren. Konkurrenz besteht in diesem Zusammenhang auch bezüglich der Bundesratsambitionen der Grünen. Aber mit Blick auf die wahrgenommene Themenkompetenz ergänzen sich die beiden Parteien. Die SP und die Grünen politisieren zum Beispiel gemeinsam in Sachen Klimawandel oder Migration. Als rot-grünes Lager werden sie hier von ihrer Zielwählerschaft als engagiert und kompetent wahrgenommen. 


Delia Zollinger

Delia Zollinger ist Postdoktorandin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich. Im November 2022 erschien das Buch „Wählerschaft und Perspektiven der Sozialdemokratie in der Schweiz“ , an dem sie mitgewirkt hat.

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