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Mitte als Mehrheitsbeschafferin gestärkt

Georg Lutz, Redaktion DeFacto
23rd Oktober 2023

Gestern, am 22.10.2023, wurde in der Schweiz gewählt. Die Stimmen sind ausgezählt und die Ergebnisse bekannt. Georg Lutz ordnet das Wahlergebnis ein, bilanziert, ob der Wahlausgang wie vorhergesagt eingetreten ist, und welche Konsequenzen aus dem Wahlergebnis zu erwarten sind.

Was ist Ihrer Meinung nach das Bemerkenswerteste des Wahlausgangs 2023?

Georg Lutz: Trends, die sich abzeichneten wurden bestätigt: die SVP gewinnt, die grünen Parteien verlieren deutlich, die SP legt zu, aber nicht so stark wie die Grünen verlieren, d.h. insgesamt haben wir einen kleinen Rechtsrutsch. Bemerkenswert wars aber eigentlich dort, wo die Bewegungen klein waren, bei der FDP und der Mitte. Die zwar kleinen Verluste der FDP bedeuten, dass die Partei bei 10 der letzten 11 nationalen Wahlen seit 1983 Wähleranteile verlor. Sie hat nun gegenüber der Mitte nur noch mini mehr Stimmenanteile und weniger Sitze im Nationalrat und wohl auch nach den zweiten Wahlgängen weniger Mandate im Ständerat. Die CVP umgekehrt hat den Namenswechsel und die Fusion mit der BDP hin zur „Mitte“ gut überstanden. Dank der Fusion und dem Streichen des „Christlich“ im Namen konnte die Mitte die Basis legen in allen Kantonen ihr Wähleranteile zu halten oder sogar auszubauen, d.h. auch dort, wo die CVP vor der Fusion mit der BDP sehr schwach war. Das ist auch für die Perspektive der Partei positiv, weil sie damit überall die FDP, aber auch die GLP konkurrenzieren kann.

Überrascht es Sie, dass die SVP so stark zulegen konnte?

Nein, da lagen die Umfragen im Vorfeld richtig. Bemerkenswert ist vor allem, wie es der SVP gelang, ihr Ergebnis von 2015 zu wiederholen. Migration war zwar ein wichtiges Thema für die Menschen in der Schweiz, aber nicht so dominant wie noch 2015. Andere Themen waren mindestens ebenso wichtig, bei denen die Partei eigentlich nicht punktet, wie z.B. die Gesundheitskosten oder Umwelt und Klima. Und die Partei hat heute weniger markante Aushängeschilder wie das noch mit Toni Brunner oder Ueli Maurer der Fall war, sondern die Aufmerksamkeit ist auf viele Schultern verteilt und damit schwammiger. Warum das gelang, ist noch spekulativ, da gute Umfragedaten ausstehen: neben der Themenkonjunktur gibt es allenfalls Mobilisierungseffekte und es ist auch möglich, dass die Partei noch stärker von ihrer Protesthaltung in verschiedenen Bereichen profitieren konnte.

Welche Folgen sind davon zu erwarten, dass die Mitte etwa gleich stark ist wie die FDP?

Es wird sicher eine Diskussion über die Zusammensetzung des Bundesrates geben, spätestens wenn ein Bundesratsmitglied der FDP zurücktritt. Die Legitimation der FDP auf zwei Sitze ist weiter erodiert, sie war bereits vor diesen Wahlen im Bundesrat klar übervertreten. Wenn die Linke bereit, ist, die Mitte zu unterstützen können SVP und FDP ihre Mehrheit im Bundesrat nicht halten. D.h. die FDP muss darauf hoffen, dass Ignazio Cassis noch vier Jahre durchhält und sie dann wieder an Wähleranteilen zulegt. Dass man keine amtierenden Bundesräte abwählen soll, bleibt im Moment das einzige Argument für zwei FDP-Sitze. Und nicht nur wegen dem Bundesrat wird die Konkurrenzsituation zwischen FDP und Mitte verschärft, die Mitte kann nun in allen Kantonen die FDP bedrängen.

Wie wird sich das Wahlergebnis auf die kommende Legislatur auswirken?

Insgesamt haben sich die Mehrheitsverhältnisse weder im National- noch im Ständerat fundamental geändert. In beiden Kammern gibt’s Mehrheiten nur mit der Mitte, je nachdem mit Links oder Rechts. Die Mitte ist damit weiterhin in einer sehr komfortablen Position als Mehrheitsbeschafferin. Es wird trotzdem nicht einfacher werden, tragfähige und stabile Kompromisse für zentrale Herausforderungen zu finden, etwa in der Gesundheits-, Klima- und Energiepolitik oder bei der Klärung des Verhältnisses zu Europe. Die SVP ist einmal mehr gut gefahren mit einem strategischen Oppositionskurs und die Konkurrenzsituation zwischen FDP und Mitte wird sich verschärfen. D.h. auch bei FDP und Mitte könnten sich strategische Positionierungen in Abgrenzung zur jeweils anderen Partei im politischen Zentrum häufen.

 

--> Hinweis: Die Aussagen in diesem Interview wurden am 25. Oktober 2023, nachdem das BFS die korrigierten Wähleranteile publiziert hat, leicht angepasst. 


Georg Lutz

Georg Lutz studierte und promovierte an den Universitäten Bern und Genf. Heute ist der Direktor des Schweizer Kompetenzzentrums für Sozialwissenschaften FORS und Professor für Politikwissenschaft an der Universität Lausanne. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich politische Verhaltensforschung (insbesondere Wahlforschung und Wahlverhalten), aber auch politische Institutionen mit Fokus auf der Schweizer Politik.

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