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Schweizer Lehrbetriebe und das Bekenntnis zur Berufsbildung

Anna Wilson, Scherwin Michael Bajka
8th November 2023

Der Fachkräftemangel macht auch vor modernen Volkswirtschaften keinen Halt. Diverse internationale Organisationen sehen die Berufsbildung als Teil der Lösung an. Wie stehen bereits involvierte Betriebe in herausfordernden Zeiten zur Berufsbildung? Welche Erfahrungen haben Berufsbildende bei der Rekrutierung von Lernenden gemacht und mit welchen Herausforderungen sehen sie sich dabei konfrontiert?

Einleitung

Der in Europa andauernde Fachkräftemangel stellt für zahlreiche Volkswirtschaften eine grosse Herausforderung dar (Bonoli & Emmenegger, 2022). In diesem Kontext hat die EU-Kommission 2023 als das Europäische Jahr der Kompetenzen proklamiert und sendete damit ein starkes Signal für die Förderung der Berufsbildung aus (EC, 2023). Gemäss der EU-Institution für Berufsbildung (Cedefop) und der OECD kann die Ausweitung des dualen Berufsbildungsangebots den ungedeckten Fachkräftebedarf der Wirtschaft und die Jugendarbeitslosigkeit verringern (Cedefop, 2023; Hoeckel, 2007). Bei der dualen Berufsbildung findet die Ausbildung nicht nur in Schulen, sondern auch in Unternehmen statt. Die Lehrbetriebe tragen somit einen ehrblichen finanziellen Anteil bei. Dafür können sie aber direkt Einfluss nehmen auf die Fertigkeiten, die zukünftigen Arbeitskräften gelehrt werden, um den sich stets wandelnden Berufsanforderungen einer Wissensgesellschaft gerecht zu werden.

Allerdings spitzt sich der Fachkräftemangel ebenfalls in Ländern mit langer dualer Berufsbildungstradition, wie Dänemark, Deutschland, Österreich und der Schweiz zu, wo bis zu zwei Drittel der Jugendlichen eine Lehre absolvieren. Dieses Defizit könnte Unternehmen dazu veranlassen, sich von der klassischen dualen Berufsbildung abzuwenden, u. a. um Kosten zu sparen. Lehrbetriebe könnten sich z. B. bei der Deckung ihres Fachkräftebedarfs öfters an Absolventen*innen von allgemeinbildenden Institutionen wenden (Bonoli &  Emmenegger 2022). Dieser Artikel befasst sich daher mit der Fragestellung: Leidet unter der beschriebenen Entwicklung das Vertrauen der Unternehmen in die duale Berufsbildung? Welche Schwierigkeiten haben Unternehmen bei der Rekrutierung von Lernenden?

Um festzustellen, wie stark Lehrbetriebe in herausfordernden Zeiten an der dualen Berufsbildung festhalten, fängt der vorliegende Artikel die Einschätzungen von rund 2’600 Schweizern Lehrbetrieben ein. Wir haben dafür im November 2022 eine schweizweite Umfrage unter Lehrbetrieben lanciert, da das Schweizer Berufsbildungssystem sich über die Zeit gehalten hat und als zukunftsträchtig sowie exemplarisch gilt (Emmenegger et al. 2023). Das Hauptziel der Umfrage war es, die Bedeutung der Berufsbildung für die Linderung des firmeninternen Fachkräftemangels aufzuzeigen. Zudem wurden die unterschiedlichen Gründe für und Lösungsansätze gegen den Fachkräftemangel im Zusammenhang mit der Berufsbildung erfragt. Der vorliegende Bericht fasst die zentralsten Ergebnisse der branchenübergreifenden Umfrage zusammen.

Rekrutierungsschwierigkeiten & Fachkräftemangel

In einem ersten Schritt fragten wir die Betriebe, ob sie erwarten, über die nächsten fünf Jahre hinweg vom Fachkräftemangel betroffen zu sein. Von den Betrieben, welche die Frage beantwortet haben, gaben mehr als die Hälfte (65%) an, dass ein (fortbestehender) Fachkräftemangel ein eher wahrscheinliches bis sehr wahrscheinliches Szenario darstellen würde. Diese Gruppe von Lehrbetrieben deckt verschiedene Sektoren ab. Am stärksten betroffen sehen sich Unternehmen in den Sektoren: Baugewerbe, Bildung, Gastgewerbe, Gesundheit und Soziales. Nur 15% aller Betriebe sind in diesem Zusammenhang optimistischer. Sie gaben an, dass ein Fachkräftemangel in den nächsten fünf Jahren eher oder sehr unwahrscheinlich ist.

Von den Unternehmen, die einen Fachkräftemangel für wahrscheinlich hielten, gaben 35% an, dass das Problem mit der dualen Berufsbildung zusammenhängt. Als Hauptgründe dafür wurden genannt, dass a) die duale Berufsausbildung im Allgemeinen nicht flexibel genug ist oder b) der betriebliche Teil der Berufsbildung nicht mit den sich ständig ändernden Qualifikationsanforderungen Schritt halten kann. Auf die Folgefrage, warum das duale Berufsbildungssystem nicht anpassungsfähig genug sein könnte, nannten die Befragten am häufigsten, dass das Gymnasium als konkurrierender Bildungsweg an Attraktivität gewonnen habe und die zunehmenden Schwierigkeiten bei der Einstellung von Lernenden (Wilson & Bajka 2023). Die Unternehmen nannten zwei Hauptgründe für ihre Sorgen für den antizipierten Fachkräftemangel: 1) die Anzahl von qualifizierten Bewerberenden nimmt ab, und 2) ihr wichtigstes Berufsbildungsprogramm verliert an Beliebtheit.

Als Lösung für die aufgetretenen Schwierigkeiten schlagen die Betriebe vor, dass die Schulen den zukünftigen Lernenden die Berufsbildungsprogramme vermehrt vorstellen, und sie besser auf diese vorbereiten sollten. Des Weiteren könnten die Organisationen der Arbeitswelt politisch aktiver sein (Abbildung 1, Mehrfachantworten möglich).

Abbildung 1. Lösungsansätze für den Fachkräftemangel

Unabhängig vom Anforderungsgrad, von der Sektorzugehörigkeit oder der Unternehmensgrösse hat die Mehrheit der Schweizer Lehrbetriebe Schwierigkeit bei Rekrutierung von Lernenden. Allerdings sind die Schwierigkeiten bei den Kleinst- und Kleinbetrieben am ausgeprägtesten. Bei den anderen Unternehmensgruppen zeigt sich ein ähnliches Bild, wobei die Betroffenheit mit steigender Firmengrösse leicht abnimmt.

Welche Gründe nennen die befragten Betriebe für deren Rekrutierungsschwierigkeiten auf der Berufsbildungsebene? Die zwei am häufigsten genannten Antworten waren: 1) Lernenden mangelt es allgemein an Qualität und 2) die Bewerbenden sind nicht bereit dazu, die beschwerliche Arbeit zu verrichten, welche manche Lehrprogramme mit sich bringen (Abbildung 2, Mehrfachantworten möglich).

Abbildung 2. Gründe für Rekrutierungsschwierigkeiten

Ausstiegsüberlegungen von Lehrbetrieben

Inwieweit ziehen die Unternehmen in Zeiten des Fachkräftemangels einen Ausstieg aus der dualen Berufsbildung in Betracht? Es konnte festgestellt werden, dass von den befragten Unternehmen rund 88% zum dualen Berufsbildung stehen. Dementsprechend denken lediglich 12% der Lehrbetriebe an einen Ausstieg.

Überträgt man diese Ergebnisse auf die Gesamtheit der ca. 58’000 Schweizer Lehrbetriebe (Gonon 2014), könnten derzeit fast 7'000 Betriebe einen Rückzug aus der Berufsbildung erwägen. Sollten sie sich in naher Zukunft wirklich dafür entscheiden, könnte dies schwerwiegende Auswirkungen auf die öffentlich-privaten Zusammenarbeit sowie das Schicksal von minderqualifizierten Bewerbenden haben. Dies beutet wiederum, dass sich der Fachkräftemangel weiter ausweiten könnte (Wettstein et al. 2017). Des Weiteren stellten wir fest, dass Unternehmen, welche sich über Rekrutierungsschwierigkeiten beklagen, eher bereit sind, aus der dualen Berufsbildung auszusteigen — als Betriebe, die sich weniger stark beklagen.

Bei der Betrachtung der Ausstiegstendenzen geordnet nach Berufsfeldern zeigt sich, dass die Lehrbetriebe aus den Sektoren mit den tiefsten und höchsten Fertigkeitsanforderungen am ehesten aussteigen würden. Den beiden Sektoren ist gemein, dass der technologische Wandel grundlegende Veränderungen herbeigeführt hat. In Bezug auf den niedrigqualifizierten Sektor ist es die Routinisierung der Arbeit, beim höherqualifizierten Sektor die ständige Weiterentwicklung der Berufsanforderungen. Bei den Berufsvertretern mit mittlerem Anforderungsgrad ist die Ausstiegstendenz hingegen schwächer. Diese Betriebe sind traditionell stärker mit der dualen Berufsausbildung verbunden und nach wie vor stark auf dieses System angewiesen (Bajka & Wilson 2023).

Abschliessend fragten wir die Unternehmen, die einen Ausstieg in Betracht zogen, welche alternative Strategie sie anwenden würden, um ihren Fachkräftemangel zu beheben (Abbildung 3, Mehrfachantworten möglich). Sie gaben an, dass sie stattdessen am ehesten nach erfahreneren Arbeitskräften suchen würden. Danach würden sie Lernende, die anderswo abgeschlossen haben, anwerben oder Arbeitskräfte aus verwandten Bereichen einstellen und diese umschulen.

Abbildung 3. Alternative Strategien zur Fachkräftebedarfsdeckung

Fazit

Unsere Erkenntnisse lassen darauf schliessen, dass viele Lehrbetriebe erhebliche Schwierigkeiten haben, geeignete Bewerbende für ihre Berufsbildungsprogramme zu finden. Mehr als zwei Drittel der Unternehmen sind besorgt über einen bestehenden oder drohenden Fachkräftemangel. Von allen befragten Unternehmen erwägen etwa zwölf Prozent einen Ausstieg aus der Berufsbildung. Als alternative Strategien für die Deckung des firmeninternen Fachkräftebedarfs nennen sie die Einstellung erfahrener Arbeitskräfte oder sogar das Abwerben von Absolventen anderen Lehrbetrieben. Auf der Makroebene könnte dieses Verhalten zu klassischen Trittbrettfahrerproblemen führen. Es könnte eine langfristige Störung des Gleichgewichts von Angebot und Nachfrage folgen. Handkehrum hält der Grossteil der Lehrbetriebe auch der dualen Berufsbildung die Treue. Somit könnten sich der eingangserwähnte Appell an die Volkswirtschaften Europas — betreffend Stärkung der Berufsbildung — als nachhaltig erweisen.


Referenzen:

  • Bajka, S. and Wilson, A. (2023). "Supernovas, Sceptics and Loyal VETerans: Swiss training firms' training considerations in dual vocational education and training." Conference paper presented at ESPAnet annual conference in Warsaw, September 5-8, 2023.

  • Bonoli, G. and Emmenegger, P. (2022). Collective Skill Formation in the Knowledge Economy. Oxford: Oxford University Press.

  • Cedefop (2023). Skills in transition: the way to 2035. Luxembourg: Publications Office. http://data.europa.eu/doi/10.2801/438491 [Besucht 22.08.2023].

  • EC (2023). EU Commission. European Year of Skills 2023: https://commission.europa.eu/strategy-and-policy/priorities-2019-2024/europe-fit-digital-age/european-year-skills-2023_en [Besucht 22.08.2023].

  • Emmenegger, P., Bajka, S. M., & Ivardi, C. (2023). How Coordinated Capitalism Adapts to the Knowledge Economy: Different Upskilling Strategies in Germany and Switzerland. Swiss Political Science Review.

  • Gonon, Philipp (2014). "What makes the Dual System to a Dual System? A new Attempt to Define VET through a Governance Approach." Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 25.

  • Hoeckel, K. (2007). Key evidence on vocational education and training policy from previous OECD work. Retrieve from: http://www. oecd. org/education/skills-beyondschool/43897509. pdf. [Besucht 22.08.2023].

  • Wettstein, E., Schmid, E. and Gonon, P. (2017). Swiss Vocational and Professional Education and Training (VPET). Bern: hep Verlag.

  • Wilson, A. and Bajka, B. (2023). "What is broken about dual VET (and how it can be fixed)". Conference paper presented at ECPR annual conference in Prague, September 4-8, 2023.

Bild: unsplash.com