1

Wieso Identität, «Wokeness» und Gender mit Status und Anerkennung zusammenhängen

Magdalena Breyer
13th Dezember 2023

Unterschiedliche Ansichten über Geschlecht, Sexualität und Herkunft führen zu heftigen politischen Debatten. Dabei geht es im Kern um die Frage, wie gesellschaftliche Anerkennung und Status verteilt sind. Diese Auseinandersetzungen führen aber nur teilweise zu einem kulturellen Backlash. Sie tragen nämlich genauso zur Mobilisierung progressiver Wähler*innen bei.

In vielen hitzigen Debatten über sogenannte Identitätspolitik oder politische Korrektheit geht es letztlich darum, welche Gruppen in der Gesellschaft Anerkennung erfahren, und welche diese verlieren oder gewinnen. In den Augen einiger haben Frauen, Personen aus der LGBTIQ-Gemeinschaft  oder Black and People of Color (BPoC) mittlerweile zu viel Deutungshoheit erlangt. Ein Vorwurf lautet, dass bisherige Minderheiten mittlerweile vorgeben, was und wie man zu sprechen habe und dass gegenläufige Meinungen oder Lebensstile nicht mehr toleriert würden.

Doch ist dem so? Wie nehmen Menschen gesellschaftliche Statusunterschiede und deren Veränderungen in den letzten dreissig Jahren wahr? Wie hängen diese Wahrnehmungen mit der Wahl für eine bestimmte Partei, besonders für Parteien an den Polen des politischen Spektrums zusammen?

In den letzten fünfzig Jahren sind soziokulturelle Hierarchien, d.h. Hierarchien nach Geschlecht, Sexualität und ethnischer Herkunft, flacher geworden. Mit dieser Entwicklung in Richtung grösserer Gleichheit zwischen Gruppen geht aber auch eine Politisierung einher. Das beinhaltet Gegenreaktionen aus Sorge vor Statusverlust von jenen Gruppen, deren bisherige Vorteile in Frage gestellt werden, so beispielsweise die häufig erwähnten ‘alten, weissen Männer’ (Gidron & Hall 2017). Die Politisierung und Gegenreaktionen sind nicht überraschend. Schon oft in der Menschheitsgeschichte waren die Zeiten sich verändernder Hierarchien politisch brisant. 

Soziokulturelle und wirtschaftliche Hierarchien werden wahrgenommen

Nach wie vor werden Unterschiede basierend auf ökonomischen als auch auf soziokulturellen Faktoren von der Bevölkerung stark wahrgenommen. Das bedeutet, dass Menschen mit prestigeträchtigen Berufen, hoher Bildung und hohem Einkommen weiter oben auf der Hierarchie eingeordnet werden als andere (Abbildung 1). Männer, Menschen ohne Migrationshintergrund und heterosexuelle Menschen werden ebenfalls als weiter oben verortet, dies sogar noch isoliert von deren ökonomischen Vorteilen.

Ausserdem zeigte sich, dass diese Wahrnehmung von der überwältigenden Mehrheit geteilt wird. Fast niemand leugnet, dass Menschen mit Migrationshintergrund, Frauen, Schwule und Lesben in der Schweiz auf der Hierarchie immer noch tiefer unten stehen und mit Nachteilen zu kämpfen haben – nicht einmal ideologisch rechts verortete Befragte. Selbst Menschen, die finden, dass Hierarchien zu flach geworden sind erkennen also an, dass es noch eine Hierarchie gibt. Eine Ablehnung gegenüber Veränderung lässt daher darauf schliessen, dass sie die Hierarchie zumindest teilweise gerechtfertigt finden.

Abbildung 1: Wahrgenommene Position auf der gesellschaftlichen Hierarchie (Schweiz)

Abbildung: Magdalena Breyer, realisiert für DeFacto von Alix d’Agostino • Quelle: Conjoint-Experiment in einer Umfrage in der Schweiz (Kapitel 2 der Dissertation). Die Befragten sollten zwischen zwei Profilen jenes auswählen, welches weiter oben auf der gesellschaftlichen Hierarchie steht. Die horizontale Achse zeigt marginal means, also die durchschnittliche Platzierung auf der gesellschaftlichen Hierarchie.
Lesebeispiel: Ein Profil mit dem Beruf Elektriker*in wird mittig auf der gesellschaftlichen Hierarchie eingeordnet, während für andere Merkmale wie Einkommen und Geschlecht kontrolliert wird.

Veränderungen über die Zeit werden je nach Ideologie unterschiedlich wahrgenommen

Wie nehmen Menschen Veränderungen in gesellschaftlichen Hierarchien wahr? Wie unsere Forschung zeigt, dominieren dabei ökonomische Ungleichheiten die Wahrnehmungen der Menschen. Die steigende Einkommens- und Vermögensungleichheit ebenso wie ein sozialer Abstieg von armen und arbeitslosen Menschen beschäftigt die Bevölkerung stark. Ausserdem nehmen viele eine sinkende Anerkennung von bestimmten Berufen wahr, etwa von manuellen Tätigkeiten und klassischen Arbeiterberufen, aber auch von Berufen der Mittelschicht wie etwa Lehrkräften.

Wahrnehmungen über gesellschaftliche Veränderungen - und wie wünschenswert diese sind – sind politisch geprägt. Wir haben deswegen untersucht wie sich Menschen mit unterschiedlicher politischer Weltsicht über die soziokulturellen Veränderungen äussern. Welche politische Sprengkraft hat die verbesserte gesellschaftliche Position von Frauen, LGBTIQ Menschen und ethnischen Minderheiten? Wir unterscheiden zwischen Befragten, die tendenziell gegen Einwanderung, EU-Integration und Geschlechtergleichheit sind (Rechtsautoritäre), und solchen, die diese befürworten (Progressive).

Hier zeigen sich interessante Unterschiede. Rechtsautoritäre Menschen denken, dass ethnische Minderheiten und Einwanderer (Abbildung 2) auf Kosten Einheimischer aufholen. Grössere Gleichheit wird nicht als Gewinn für alle verstanden, sondern es wird ein Anspruch auf einen Statusvorteil für Bürger*innen ohne Migrationshintergrund formuliert. Diese Einstellung birgt Konfliktpotenzial, ist aber in Zeiten dominanter Narrative von rechtsradikalen Parteien nicht überraschend. 

Abbildung 2: Politische Einstellungen und Wahrnehmungen von Veränderungen soziokultureller Hierarchien (Deutschland)

  Rechtsautoritäre Befragte Progressive Befragte
Ethnische
Herkunft
Minderheiten holen auf Kosten Einheimischer auf Minderheiten haben aufgeholt, sind aber noch benachteiligt
Geschlecht &
Sexualität
Wenig erwähnt Grössere Gleichheit kein automatischer Verlust für Männer/Heteros

Abbildung: Magdalena Breyer, realisiert für DeFacto von Alix d’Agostino • Quelle: Zusammenfassung häufiger Muster in den offenen Antworten in Umfrage in Deutschland (Kapitel 3 der Dissertation, koautoriert mit Tabea Palmtag und Delia Zollinger). Gefragt wurde nach Gruppen, die im Laufe der letzten Jahrzehnte Anerkennung gewonnen/verloren haben.

Progressive Befragte nehmen im Gegensatz dazu gesellschaftliche Verschiebungen bezüglich Geschlecht und Sexualität stark wahr. Hier werden Frauen und LGBTIQ-Menschen als Aufsteiger*innen identifiziert. Männer, cis- oder heterosexuelle Menschen werden dabei aber nicht symmetrisch als Verlierer*innen bezeichnet. Das bedeutet, dass wir für die Dimensionen Geschlecht und Sexualität keine dominanten Nullsummen-Narrative finden. Diese grössere Gleichheit gilt für Progressive als generell positive Entwicklung, die niemandem schaden muss.

Daten und Methoden

Die Dissertation (Breyer 2023, IPZ Universität Zürich) untersucht die Auswirkungen sich verändernder gesellschaftlicher Hierarchien in der Schweiz und in Deutschland. Status und Anerkennung werden als Merkmale einer gesamtgesellschaftlichen Hierarchie verstanden, die sowohl ökonomische als auch soziokulturelle Ungleichheit umfasst.

Die Dissertation beruht auf Umfragen in der Schweiz und in Deutschland. Diese wurden jeweils online und mit Quotierungen für Alter, Geschlecht, und Bildung durchgeführt, sodass sie die Merkmale der jeweiligen Bevölkerung abbilden. Abbildung 1 liegt ein Conjoint-Experiment in der Schweiz zugrunde, in welchem die Charakteristika von vorgelegten Profilen von Personen zufällig variiert werden. Befragte sollten dann in einem Profilvergleich entscheiden, welches weiter oben auf der gesellschaftlichen Hierarchie steht. Abbildung 2 liegen offene Fragen über Verschiebungen in gesellschaftlichen Hierarchien zugrunde. Befragte in Deutschland beschrieben in eigenen Worten, welche Gruppen an Anerkennung verloren oder gewonnen haben. Abbildung 3 beruht auf einem Umfrageexperiment in Deutschland, wobei verschiedenen Teilnehmenden verschiedene Darstellungen der Entwicklung der Repräsentation von Frauen in der Politik gezeigt wurden. Abbildung 3 zeigt die Effekte auf die Wahlabsicht, je nachdem ob die Ungleichheit als andauernd oder als abnehmend dargestellt wird.

 

Mobilisierung von progressiven Wähler*innen wenn Versprechungen nicht erfüllt werden

Die Veränderungen werden abhängig von vorhandenen Einstellungen unterschiedlich wahrgenommen. Letztlich ist aber ausschlaggebend, wie die Wahlentscheidung davon beeinflusst wird und welche Parteien dadurch die Macht erhalten, ihre Programme durchzusetzen. Denn politische Entscheidungen beeinflussen, wie starr oder wie flexibel die Ungleichheit ist.

Interessanterweise bestätigt sich auch hier, dass eine progressive Mobilisierung gegen fortbestehende Ungleichheit viel stärker zu beobachten ist als ein rechtsradikaler Backlash gegen die Gleichberechtigung von Frauen. Konkret zeigt sich, dass die grüne Partei in Deutschland weibliche Wähler*innen gewinnen kann, wenn in einem Experiment auf die fortbestehende Ungleichheit zulasten von Frauen hingewiesen wird (Effekt 1 in Abbildung 3). Wenn betont wird, wie sehr Frauen schon aufgeholt haben, zeigen sich wenig Effekte, weder auf grünes noch auf rechtsradikales Wählen (der Alternative für Deutschland, Effekt 2). Das heisst also, dass Männer nicht per se gegen die grössere Gleichheit von Frauen rebellieren. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass rechtsradikale Akteure solch eine Rebellion durch gezielte Narrative anfachen können, wie andere Studien (Off 2023, Anduiza & Rico 2022) zeigen konnten.

Abbildung 3: Wahlabsicht und die Wahrnehmung von Geschlechterungleichheit (Deutschland)

Abbildung: Magdalena Breyer, realisiert für DeFacto von Alix d’Agostino • Quelle: Umfrageexperiment in Deutschland (Kapitel 4 der Dissertation). Vergleich der Kontrollgruppe zu den zwei Experimentalgruppen mit verschiedenen Interpretationen zur Repräsentation von Frauen in der Politik. Die vertikalen Achsen zeigen vorhergesagte Werte für die Wahlabsicht, je auf einer Skala von 0-10.
Lesebeispiel: In der Experimentalgruppe, in der auf die fortbestehende Ungleichheit der Geschlechter hingewiesen wurde, lag die vorhergesagte grüne Wahlabsicht unter Frauen bei 4.4.

Parteien sollten auch jene im Blick behalten, die grössere soziokulturelle Gleichheit wichtig finden

Es gibt zwar kulturelle Backlash-Tendenzen, besonders was ethnische Hierarchien angeht. Jedoch wäre ein ausschliesslicher Fokus auf diese Tendenz verkürzt. Wichtige und wachsende Wähler*innengruppen, etwa Frauen, Menschen mit sozialen Berufen und progressiven Einstellungen finden eine grössere soziokulturelle und ökonomische Gleichheit wichtig. Wenn diese nicht erreicht wird, kann das genauso Unzufriedenheit auslösen wie etwaige Statusverlustängste. Es ist für politische Parteien wichtig, Ideen zu formulieren wie einerseits weitere Benachteiligung abgebaut werden kann und andererseits, wie dies als Gewinn für die gesamte Gesellschaft verstanden werden kann.


Referenzen:

  • Anduiza, Eva; Rico, Guillem (2022): Sexism and the Far‐Right Vote. The Individual Dynamics of Gender Backlash. Early View. In: American Journal of Political Science. DOI: 10.1111/ajps.12759.

  • Breyer, Magdalena (2023): Social Status Politics. The Role of Shifting Cultural Hierarchies. Kumulative Dissertation. Universität Zürich. Institut für Politikwissenschaft. Online verfügbar unter https://doi.org/10.5167/uzh-234049.

  • Gidron, Noam; Hall, Peter A. (2017): The Politics of Social Status. Economic and Cultural Roots of the Populist Right. In: The British Journal of Sociology 68 Suppl 1, S57-S84. DOI: 10.1111/1468-4446.12319.

  • Off, Gefjon (2023): Gender Equality Salience, Backlash and Radical Right Voting in the Gender-Equal Context of Sweden. In: West European Politics 46 (3), S. 1–26. DOI: 10.1080/01402382.2022.2084986.

Der Artikel wurde von Sarah Bütikofer und Remo Parisi bearbeitet.

Bild: unsplash.com