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Herr Sciarini, wieso hat Beat Jans die Wahl gewonnen?

Pascal Sciarini, Redaktion DeFacto
15th Dezember 2023

Die Bundesversammlung hat den Bundesrat für die kommenden Legislaturperiode gewählt.  Die sechs bisherigen Regierungsmitglieder wurden alle wiedergewählt. Der Nachfolger von Alain Berset heisst Beat Jans. Pascal Sciarini erklärt die Gründe, die zu seiner Wahl durch das Parlament führten. 

Warum hat Jon Pult so wenige Stimmen erhalten?

Pascal Sciarini: Die tiefen Stimmenzahl für Jon Pult erklärt sich automatisch durch die hohe Anzahl an Stimmen für Daniel Jositsch. Offensichtlich hat das rechte Lager – vor allem die SVP – die getätigten Ankündigungen nicht befolgt, d.h. nur Kandidaten vom offiziellen Ticket zu wählen. Da Jon Pult als zu links und zu pro-europäisch gelten kann, wurde das eher zentristische sozialdemokratische Profil von Jositsch als annehmbarer eingestuft. Da Jositsch nach dem ersten Wahlgang nicht reagierte, konnte er auch in der zweiten und dritten Wahlrunde weiter Stimmen sammeln.

Inwieweit hat die Tatsache, dass Beat Jans aus dem Kanton Basel-Stadt stammt, der lange nicht im Bundesrat vertreten war, zu seinen Gusten gespielt?

Basel ist nach Zürich und der Genferseeregion der drittgrößte Wirtschaftsstandort der Schweiz und war seit Jahrzehnten nicht mehr im Bundesrat vertreten. Diese Tatsache spielte bei der Wahl von Beat Jans ebenso eine Rolle wie der Fakt, dass es sich bei ihm auch um einen städtischen Kandidaten handelte, der die Stimme der Schweizer Städte in die Exekutive einbringen kann. Diese Faktoren gehören sicherlich zu den Faktoren, die von den Parlamentsmitgliedern bei der Wahl berücksichtigt wurden, auch wenn es sich dabei in erster Linie um symbolische Aspekte handelt: Auf praktischer Ebene wird Beat Jans keine Politik für die städtischen Regionen oder einen bestimmten Kanton machen können.

Zudem wird von ihm aufgrund des Kollegialitätsprinzips und der Tatsache, dass er auch von anderen Parteien gewählt wurde, erwartet, dass er sich nach der Wahl in den Bundesrat teilweise von seinem sozialdemokratischen Etikett und auch von seiner Basler bzw. städtischen Herkunft lösen wird.

Wie lässt sich erklären, dass bei den Bundesratswahlen 2022 und 2023 Teile der bürgerlichen Parteien beide Male von den offiziell durch die SP nominierten Kandidierenden abwichen und jemanden anderen unterstütz haben? 

Die gestrigen "Gestikulationen" sind meiner Meinung nach eine Machtdemonstration eines Teils der SVP. Dies ist hingegen nicht neu: 1983 wurde der Solothurner Nationalrat Otto Stich der offiziellen Kandidaten Lilian Uchtenhagen aus Zürich vorgezogen und 1993 wurde die Kandidatur der Genferin Christiane Brunner von der Ratsrechten abgelehnt. Nach diesen beiden Ereignissen hat sich die (informelle) Praxis des Tickets durchgesetzt. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass diese Praxis in Zukunft häufiger missbraucht wird - unabhängig davon, ob es sich um von der Linken oder der Rechten aufgestellte Kandidaten handelt.

Glauben Sie, dass sich dieser Trend zur Unterstützung von wilden Kandidaturen in Zukunft verstärken wird? Werden sich folglich bei künftigen Wahlen auch linke Parteien nicht an die Tickets der bürgerlichen Parteien halten?

Ich denke, dass dieses Abweichen vom Ticket und der damit einhergehende Medienrummel einen etwas übertriebenen und künstlichen Charakter haben: Man spricht letztlich nur über die Vergabe eines einzigen der sieben Sitze im Bundesrat, ohne die grundsätzlichen Fragen über das Ende der politischen Konkordanz und die Frustration, die die arithmetische Konkordanz hervorruft, anzusprechen. Ist das derzeitige System noch lange haltbar? Wann wird das Ausmass der Uneinigkeit - insbesondere zwischen der SVP und der SP - so unüberwindbar, dass es für diese Parteien unmöglich wird, gemeinsam zu regieren? Der Wunsch dieser Parteien, andere, gemäßigtere Kandidaten als die von der Gegenseite aufgestellten zu "erzwingen", verdeutlicht meines Erachtens die grundlegendere Notwendigkeit, langfristig über einen "kohärenten" Bundesrat nachzudenken, d. h. eine Mitte-Rechts-Mehrheit ohne die SP oder - möglicherweise in der Zukunft - eine Regierung ohne die SVP. Aber das ist momentan nur eine Zukunftsvision.

Während der Sitz von Ignazio Cassis von den Grünen bekämpft wurde, lässt das leicht höhere Ergebnis seiner Parteikollegin Karin Keller-Sutter vermuten, dass ihr Sitz auch nicht so sicher war wie erwartet. Wie sehen Sie das?

Die Grünen hatten angekündigt, dass sie den Sitz von Ignazio Cassis angreifen würden. Aus Frustration darüber, dass die Kandidatur von Gerhard Andrey ein schlechtes Ergebnis erzielte, haben sie anschliessend auch auf den Sitz von Karin Keller-Sutter gezielt, allerdings ohne Chancen, diesen zu erobern. Das ist bei dieser Art von Wahlen nicht unüblich: Wenn ein/e Kandidat/in schlecht gewählt wird, ist die betroffene Partei zu Retourkutschen bereit. Solange diese Dynamiken nicht die Wahl von anderen Kandidat/innen und ihre Legitimität vor dem Parlament in Frage stellen, sind dies Angelegenheiten, die man schnell vergisst. Trotzdem zeigen die gestern erneut zu beobachteten Manöver, dass selbst eine einfache arithmetische Definition der Konkordanz für die Regierungsparteien schwer einzuhalten ist.

Betrachten Sie die Ernennung von Viktor Rossi aus den Reihen der Grünliberalen zum Bundeskanzler als den Willen der Bundesversammlung, ein Gegengewicht zum polarisierten Charakter des Bundesrats zu schaffen?

Ich glaube nicht, dass es darum ging, der Polarisierung des Bundesrates entgegenzuwirken, sondern vielmehr darum, den beiden von der SVP aufgestellten Kandidaturen, die bereits zwei Sitze im Bundesrat hat, den Weg zu versperren. Eine andere Hypothese wäre, dass man das gestärkte ökologische Lager getröstet hat, indem man ihnen den Bundeskanzler zugesprochen hat. Allerdings ist festzuhalten, dass die politische Gesinnung des Bundeskanzlers wenig Einfluss auf die Regierungsgeschäfte hat, da er in der Pflicht steht, sich mit politischen Äusserungen sehr stark zurückzuhalten.



Pascal Sciarini

Pascal Sciarini ist Professor für Schweizer Politik und vergleichende Politik am Departement für Politikwissenschaft und internationale Beziehungen an der Universität Genf und Dekan der Fakultät für Sozialwissenschaften. Seine Forschung konzentriert sich auf Gesetzgebungsprozesse, die direkte Demokratie, die Europäisierung der Schweiz sowie die Meinungsbildung und das Wahlverhalten bei Abstimmungen und Wahlen. Er ist Autor des Buches "Politique suisse. Institutions, acteurs processus.", EPFL Press (2023). Das Buch ist open access.
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Bild: www.parlament.ch