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Frau Gerber, stimmen Frauen und Männer per se anders ab?

Redaktion DeFacto, Marlène Gerber
5th Juni 2024

Die Abstimmungsvorlagen im Jahr 2024 erhalten sehr viel Aufmerksamkeit. Wir befragen daher im Rahmen unserer Serie Forscherinnen und Forscher, die sich intensiv mit den Schweizer Abstimmungen befasst haben. Marlène Gerber macht den Anfang und erklärt, ob es ganz generell einen Unterschied zwischen Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern gibt.

Unterscheidet sich die Stimmbürgerin grundsätzlich vom Stimmbürger?

Marlène Gerber: Komplett verschieden sind Stimmbürgerin und Stimmbürger natürlich nicht. Wichtiger als die Geschlechtszugehörigkeit sind für den Abstimmungsentscheid in jedem Fall die Werthaltungen und die vorhandenen politischen Grundüberzeugungen. Frauen und Männer leben aber nach wie vor häufig in unterschiedlichen Lebensrealitäten und machen da auch andere Erfahrungen, was sich auf ihre Abstimmungsentscheide auswirken kann.

Was für andere Erfahrungen meinen Sie?

Frauen sind beispielsweise häufiger in soziokulturellen Berufen tätig als Männer, sie sind häufiger Lehrerin, Kleinkindbetreuerin, Pflegefachfrau oder Sozialarbeiterin. Dadurch erhalten sie einen anderen Blick auf die Welt als beispielweise Männer, die häufiger in technischen Berufen arbeiten und auch ganz allgemein öfter in der Führungsetage anzutreffen sind. Männer machen auch im Rahmen ihres Militär- oder Zivildienstes Erfahrungen, die Frauen nicht machen. Darüber hinaus sind Frauen auch nach wie vor stärker in die Kinderbetreuung und in die Haushaltstätigkeiten eingebunden. Dies alles führt dazu, dass die Geschlechter je andere Politikbereiche als wichtiger betrachten können.

War das immer schon so oder zeigen sich Veränderungen über die Zeit?

Die Rolle der Frau in der Gesellschaft befindet sich seit einigen Jahrzehnten im Wandel. Ihre Arbeitsmarktbeteiligung nahm zu, Frauen sind im Durchschnitt viel besser ausgebildet als früher, sie sind in der Politik präsenter, es gibt auch immer mehr Frauen in Kaderpositionen, etc.. Dies wiederum zeigt auch Probleme auf, die man früher nicht in dem Ausmass kannte, beispielsweise in Sachen Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder bei der beruflichen Vorsorge.

Hat sich denn der gesamte Stimmkörper über die Zeit verändert?

Wenn wir die Stimmbeteiligung anschauen, so können wir festhalten, dass diese über die Zeit im Durchschnitt relativ konstant ist. Die Stimmbeteiligung fällt aber in direkter Abhängigkeit der Vorlage höher oder tiefer aus. Was wir ebenfalls wissen, ist, dass die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sehr selektiv an Abstimmungen teilnehmen. Es ist nicht immer die gleiche Hälfte, die an die Urne geht, wenn die Stimmbeteiligung bei 50 Prozent liegt! Je nach Abstimmungsthema werden unterschiedliche Teile der Bevölkerung mobilisiert – und sicherlich haben die Zeiten, in denen wir leben, einen Einfluss darauf, welche Themen welche Bevölkerungsteile stärker oder weniger stark mobilisieren.

Ob sich die gesamte Stimmbürgerschaft heute ganz anders zusammensetzt als früher, können wir nicht im Detail sagen. Es gibt in der Schweiz erst seit den 1980er Jahren entsprechende Forschung. Deutlich sagen können wir aber, dass sich die Wählerschaft der Parteien über die Zeit teilweise klar verändert hat. So sind heute beispielsweise in der SP-Wählerschaft die soziokulturellen Spezialist:innen in der Überzahl, während die SP früher als Partei der Arbeiter:innen galt. Auf der anderen Seite konnte sich die SVP von der protestantischen, kleinen Bauern- und Gewerblerpartei zu einer Grosspartei mit einem breiten Parteiprogramm mausern, das bei einer breiten Bevölkerungsschicht Anklang findet.

Interessant ist, dass die ersten Frauengenerationen, die in der Schweiz der 1970er Jahre über politische Rechte verfügten, damals als eher konservativ galten. Seit Ende der 1980er Jahre bewegen sich die Frauen aber immer etwas links von den Männern. Es besteht auch die Vermutung, dass sich diese Schere noch mehr öffnet.

Worin unterscheiden sich denn Stimmbürgerinnen auch sonst von Stimmbürgern noch?

Das politische Selbstvertrauen ist vielleicht bei Frauen im Allgemeinen noch tiefer als bei Männern. Wir haben im Rahmen einer Untersuchung die Wortmeldungen an der Landsgemeinde in Glarus untersucht. Dabei zeigt sich, dass Frauen unterdurchschnittlich oft das Wort ergreifen. Auch bei den Frauen, die genauso interessiert und informiert sind wir Männer, ist die Hemmung, sich an so einer Zusammenkunft wie beispielsweise an der Landsgemeinde zu äussern, viel ausgeprägter als bei Männern. Dadurch ist auch die Dominanz der Männer gross, was wiederum eine Hürde für Frauen ist, sich zu äussern.

Verläuft die Mobilisierung bei Stimmbürgerinnen denn anders als bei Stimmbürgern?

Soweit ich weiss, nutzen Frauen nicht andere Informationskanäle als Männer, daher verläuft die Mobilisierung an sich sicherlich nicht grundverschieden.  Da die Mobilisierung generell stark über die Themen läuft, ist es für die Mobilisierung sicherlich wichtig, dass die Betroffenheit für gewisse Gruppen aufgezeigt wird. Dies gelingt häufig besser, wenn Betroffene selbst mobilisieren. Jüngst haben etwa die Frauenstreiks oder auch die Kampagne «Helvetia ruft» gezeigt, dass Frauen andere Frauen für ihre Interessen gut mobilisieren können. Da die Politik nach wie vor stark männlich geprägt ist, sind solche gut sichtbaren, öffentlichen Kampagnen oder Veranstaltungen für die Mobilisierung von Stimmbürgerinnen sicherlich besonders wichtig.

Haben die Stimmbürgerinnen in der Schweiz eigentlich schon einmal den Ausschlag für ein Abstimmungsergebnis gegeben?

Die VOX-Nachbefragungen weisen etwas mehr als 20 Mal seit 1977 aus, dass sich die Mehrheit der Stimmbürgerinnen anders entschieden hätte als die Mehrheit der Stimmbürger (siehe die Beiträge von Claude Longchamp hier und hier). Das ist bei ungefähr 420 eidgenössischen Abstimmungen seit 1977 nicht allzu oft. Dabei haben Männer und Frauen je fast gleich häufig «gesiegt» an der Urne – die Männer in einzelnen Fällen auch dank dem Ständemehr. Gemäss Nachbefragungen zum ersten Mal mehrheitlich anders gestimmt hatten Frauen und Männer im Jahr 1985: Das neue Ehe- und Erbrecht, das den Frauen viele Verbesserungen gebracht hat, wäre ohne Frauen wohl knapp gescheitert. Das letzte Beispiel war die AHV-Reform 2021, die von den Frauen im September 2022 deutlich abgelehnt aber von den Männern deutlich befürwortet wurde.

Auffallend sind zwei Aspekte:

Erstens gab es zwei Mal eine Welle, die dazu führte, dass die Frauen mehrheitlich anders stimmten als Männer. Zum einen in den 1990er Jahren und zum anderen nach dem Erstarken der Frauenbewegung ab 2019. Das zeigt erneut die Bedeutung der öffentlichen Sichtbarmachung von Fraueninteressen: Auch in den 1990er Jahren wurden Frauen insbesondere durch den Frauenstreik 1991 sowie durch die Nichtwahl von Christiane Brunner in den Bundesrat stark mobilisiert.

Zweitens sehen wir vor allem bei Themen rund um Militär, Verteidigung und Waffen, dass sich die Einstellungen von Männern klar von der von Frauen unterscheiden. Bei den Themen Umwelt, Gesundheit und Wohlfahrtsstaat sowie Gleichstellungspolitik ist ebenfalls ein Gender Gap erkennbar, auch wenn sich dies nicht immer in unterschiedlichen Abstimmungsmehrheiten äussert (siehe den Artikel von Funk und Gathmann). Unterschiedliche Lebenswelten scheinen unterschiedliche Einstellung mit sich zu bringen und die Tendenz zu verstärken, dass Frauen im Schnitt etwas mehr nach links rücken als Männer.


Marlène Gerber

Marlène Gerber studierte Politikwissenschaft, Geographie und Völkerrecht in Bern und Helsinki und doktorierte am IPW in Bern. Seit 2010 arbeitet sie bei Année Politique Suisse und ist dort aktuell stellvertretende Direktorin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Deliberation, der direkten Demokratie, Geschlechtergleichheit und Wahlkampagnen.

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Bild: unsplash.com