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Analyse der Europawahl 2024

Sara B. Hobolt
21st Juni 2024

Die populistischen Parteien der radikalen Rechten haben bei der Europawahl 2024 zwar gut abgeschnitten, die eigentliche Gewinnerin ist aber die Mitte-Rechts-Partei EVP. Sara Hobolt analysiert die Ergebnisse der Wahlen des Europäischen Parlament und zeigt dabei auf, welche Auswirkungen auf die Politikgestaltung der EU sowie die anstehenden nationalen Wahlen in den Mitgliedstaaten zu erwarten sind.

Etwa die Hälfte der 357 Millionen Wahlberechtigten aus den zur Zeit 27 EU-Mitgliedstaaten hat an den Wahlen vom 6. bis 9. Juni 2024 teilgenommen und die 720 Mitglieder des Europäischen Parlaments gewählt. Wie auf Grund der Prognosen zu erwarten war, resultierte dabei ein Rechtsruck. Das auffälligste Ergebnis war zweifelsohne, dass die rechtsextreme Partei Rassemblement National (RN) in Frankreich an der Spitze stand. Mit 31 Prozent der Stimmen erhielt die Partei von Marine Le Pens mehr als doppelt so viele Stimmen wie die Zentrumspartei von Staatspräsident Emmanuel Macron, was ihn dazu veranlasst hat, kurzfristig Parlamentswahlen in Frankreich auszurufen.

Auch in anderen Mitgliedstaaten der EU waren die rechtspopulistischen Parteien erfolgreich: Die Fratelli d'Italia der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni erzielten mit 29 Prozent den höchsten Stimmenanteil in Italien. In Deutschland kam die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) mit 16 Prozent Stimmenanteil auf den zweiten Platz und erzielte damit ihr bisher bestes Wahlergebnis.

Doch wer sind die Gewinnerinnen und Verliererinnen in ganz Europa? Was treibt die Wählenden bei den Wahlen des Europäischen Parlament an? Inwiefern sind diese Wahlen für die Politikgestaltung in der EU von Bedeutung?  Und welche Auswirkungen haben sie auf die einzelnen Mitgliedstaaten? Diesen Fragen gehe ich im Folgenden nach.

Wer sind die Gewinnerinnen und Verliererinnen?

Während sich die Aufmerksamkeit der Medien vor allem auf die Erfolge der extremen Rechten konzentrierte, war in vielerlei Hinsicht die Mitte-Rechts-Partei Europäische Volkspartei (EVP) die eigentliche Gewinnerin der Wahl. Die EVP ist nicht nur die grösste Fraktion im Europäischen Parlament geblieben und konnte zusätzliche Sitze gewinnen. Der allgemeine Rechtsruck bedeutet auch, dass sie die wahre Königsmacherin ist.

Die anderen Wahlsiegerinnen sind die europaskeptische konservative Gruppe der Europäischen Konservativen und Reformisten (ECR) - in der Melonis Fratelli d'Italia und die polnische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) die grössten nationalen Parteien bilden - sowie die rechtsextreme Gruppe Identität und Demokratie (ID), die vom siegreichen französischen RN, der österreichischen Freiheitspartei und der italienischen Liga von Matteo Salvini dominiert wird. Bis vor kurzem gehörte auch die deutsche AfD zur ID-Fraktion, wurde aber ausgeschlossen, weil sie zu extrem war, als ihr Spitzenkandidat gegenüber italienischen Zeitungen erklärte, die nationalsozialistische SS sei "nicht nur kriminell" gewesen.

Die Verliererinnen sind die Mitte-Links-Parteien, vor allem die liberale Gruppe Renew, zu der Macrons Partei angehört, und die Grünen, die sowohl in Frankreich als auch in Deutschland bei den Wahlen schlecht abschnitten. Die Mitte-Links-Fraktion der Sozialdemokraten (S&D) blieb relativ stabil.

Das neue Europäische Parlament ist daher stärker zersplittert und polarisiert. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Oppositions- und Extremparteien bei Europawahlen besser abschneiden als bei Wahlen auf nationaler Ebene - nicht zuletzt, weil viele Wählenden die EU-Wahlen als "Zwischenwahlen" betrachten, bei denen sie ihre Unzufriedenheit mit der amtierenden nationalen Regierung zum Ausdruck bringen können. Doch auch europaweite Themen wie Einwanderung, Klimaschutzmassnahmen, Energiepreise, wirtschaftliche Probleme und militärische Unterstützung für die Ukraine spielten im Wahlkampf eine Rolle.

Abbildung: Alix d'Agostino, DeFacto
Ist der Wahlausgang für die Politikgestaltung der EU von Bedeutung?

Als einziges direkt durch die EU-Bürgerinnen und Bürger gewähltes Organ der EU hat das Europäische Parlament im Laufe der Zeit seine Gesetzgebungsbefugnisse erweitert und bildet mittlerweile zusammen mit dem Europäischen Rat, der sich aus den Regierungen der Mitgliedstaaten zusammensetzt, ein echtes Mitgesetzgebungsorgan. Das bedeutet, dass die meisten EU-Politiken vom EU-Parlament gebilligt werden müssen, bevor sie Gesetz werden.

Aber werden diese Wahlen die politische Stossrichtung innerhalb EU verändern? Da die zentristische pro-europäische "grosse Koalition", bestehend aus EVP, S&D und Renew, die in der letzten Legislaturperiode die Politikgestaltung im Europäischen Parlament dominiert hat, ihre Mehrheit behalten hat, könnte man meinen, dass das Parlament künftig mehr vom Gleichen produzieren wird. Da sich im Europäischen Parlament jedoch Allianzen von Thema zu Thema bilden und der Rechtsruck die EVP zur zentralen (mittleren) Partei macht, könnte es bei einigen Themen zu einer Rechtskoalition, bestehend aus EVP und der extremen Rechten (ECR und ID) kommen.

Jüngste Untersuchungen haben gezeigt, dass die Politikbereiche, die am ehesten von einer solchen Rechtskoalition betroffen sein könnten, die Abschwächung der ehrgeizigen EU-Umweltpolitik sowie eine stärkere Unterstützung einer restriktiven statt einer liberalen Migrationspolitik sind. Vor allem der Europäische Green Deal könnte in Frage gestellt werden, da die populistische radikale Rechte auf diesen Streitpunkt setzt, indem sie eine klar ablehnende Haltung einnimmt und vor allem die unmittelbaren Kosten für Konsumenten, Landwirte und Unternehmen hervorhebt.

Vieles hängt davon ab, ob sich die EVP in solchen Fragen auf die Seite der rechtsextremen Parteien schlägt und ob es den Rechtsextremen gelingt, Spaltungen in ihren eigenen Reihen zu überwinden und stabile Fraktionen im Parlament zu bilden.

Diese Wahlen haben auch Einfluss darauf, wer die nächste Präsidentschaft des Exekutivorgans der EU, der Europäischen Kommission, übernimmt, da dafür die Zustimmung des Parlaments erforderlich ist. Auch in diesem Punkt ist eher mit Kontinuität als mit einem Bruch zu rechnen, da die derzeitige Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, auch die Spitzenkandidatin der EVP ist, welche den größten Sitzanteil erhielt. Und da die proeuropäischen Parteien der Mitte nach wie vor eine Mehrheit innehaben und sich für von der Leyen aussprechen, wird sie wohl im Amt bleiben.

Da es sich jedoch um eine geheime Wahl handelt, könnte die Wahl von der Leyens dennoch knapp ausfallen. Im Jahr 2019 gewann von der Leyen ihre Wahl mit nur 9 Stimmen Vorsprung, obwohl sie damals über eine viel grössere Koalition hinter sich verfügte.

Kann sich die Mitte halten?

Die Wahlen des Europäischen Parlaments sind nicht nur auf europäischer Ebene von Bedeutung, sondern auch für die Politik in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Europawahlen bieten  Herausfordererparteien seit langem eine wichtige Plattform, um deren Chancen bei nachfolgenden nationalen Wahlen zu verbessern. Demütigende Niederlagen für amtierende Regierungen könnten somit auch zu einem Politikwechsel der etablierten Parteien führen, hin zu mehr einwanderungsfeindlichen und klimapolitisch skeptischen Positionen.

Angesichts der kurzfristig anberaumten Parlamentswahlen in Frankreich hofft Präsident Emmanuel Macron, dass sich der Erfolg von Le Pens Rasseblement National bei den nationalen Wahlen nicht wiederholt. Da jedoch der Stimmenanteil der extremen Rechten bei den Europawahlen in Frankreich bei fast 40 Prozent lag, besteht die reale Möglichkeit, dass Präsident Macron künftig mit einem neuen französischen Premierminister, der von der extremen Rechten unterstützt wird, zusammenarbeitet.

In ähnlicher Weise deutet der Sieg der Freiheitlichen Partei in Österreich darauf hin, dass Österreich nach den Parlamentswahlen in diesem Jahr einen rechtsextremen österreichischen Bundeskanzler hat. Mittelfristig würde dies zum einem Europäischen Rat führen, der nicht mehr von proeuropäischen Regierungen von Mitte-Links und Mitte-Rechts dominiert wird, sondern in dem eine sehr bedeutende populistische rechtsradikale Fraktion vertreten ist.

Auch wenn die Europawahlen 2024 ein Parlament hervorgebracht haben, das sich nicht grundlegend vom letzten unterscheidet, so bedeuten das Wahlergebnis doch eine echte Herausforderung für die Dominanz der EU-freundlichen Kräfte der Mitte in der europäischen Politik.

Hinweis: dieser Artikel wurde am 14. Juni auf dem blog des akademischen Think Tank UK in a Changing Europe erstveröffentlicht.

Referenz: "The 2024 European Parliament elections", Sara B. Hobolt, UK in a Changing Europe (June 2024)

Bild: unsplash.com