Notrecht: Fluch, notwendiges Übel oder letzte Rettung?

UBS-Reka­pi­ta­li­sie­rung 2008, Bekämp­fung der Covid-19-Epi­de­mie 2020, Axpo-Ret­tungs­schirm 2022 und behörd­lich unter­stütz­te Über­nah­me der CS durch die UBS 2023. Den Fäl­len ist gemein­sam, dass der Bun­des­rat von sei­ner Not­rechts­kom­pe­tenz Gebrauch mach­te, um die­se Kri­sen­si­tua­tio­nen zu bewäl­ti­gen. Im Auf­trag des Par­la­ments hat der Bun­des­rat im Juni 2024 einen umfas­sen­den Bericht zur Anwen­dung von Not­recht veröffentlicht. 

Der Rück­griff auf Not­recht hat weit über die rechts­wis­sen­schaft­li­che Dis­kus­si­on hin­aus Reak­tio­nen aus­ge­löst. Eini­ge befürch­ten die Aus­he­be­lung des Rechts­staa­tes und die Auf­ga­be der Frei­heit. Ande­re sehen im Not­recht ein not­wen­di­ges Übel, um Not­la­gen zu über­win­den. Für wei­te­re schliess­lich ist es der ulti­ma­ti­ve Aus­druck, dass die Regie­rung in Kri­sen­zei­ten Ver­ant­wor­tung über­neh­men muss.

In sei­nem Bericht vom 19. Juni 2024 in Erfül­lung der Pos­tu­la­te 23.3438 und 20.3440 aner­kennt der Bun­des­rat die mit dem Not­recht ein­her­ge­hen­den Her­aus­for­de­run­gen für den Rechts­staat, die Demo­kra­tie, den Föde­ra­lis­mus und die Men­schen­rech­te (Legi­ti­ma­ti­on staat­li­chen Han­delns). Gleich­zei­tig wer­den auch die Her­aus­for­de­run­gen für die Kri­sen­be­wäl­ti­gung aus Sicht der Bun­des­ver­wal­tung auf­ge­zeigt (Effek­ti­vi­tät staat­li­chen Handelns).

Um die Hand­lungs­fä­hig­keit der Regie­rung in Kri­sen­zei­ten sicher­zu­stel­len, die für den Schutz der Inter­es­sen des Lan­des sowie der öffent­li­chen Sicher­heit und Ord­nung not­wen­dig ist, räumt die Not­rechts­kom­pe­tenz in den Arti­keln 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 der Schwei­zer Bun­des­ver­fas­sung dem Bun­des­rat einen gros­sen Ermes­sens­spiel­raum ein.

Dies hat eine tem­po­rä­re Macht­ver­schie­bung von den Kan­to­nen zum Bund (ver­ti­ka­le Gewal­ten­tei­lung) und vom Par­la­ment zum Bun­des­rat (hori­zon­ta­le Gewal­ten­tei­lung) zur Fol­ge. Vor die­sem Hin­ter­grund darf der Bun­des­rat nur in abso­lu­ten Aus­nah­me­fäl­len und wenn kei­ne ordent­li­chen Mit­tel zur Ver­fü­gung ste­hen von sei­ner Not­rechts­kom­pe­tenz Gebrauch machen.

Ein Blick zurück: Staatliche Schutzpflichten bei systemrelevanten Rechtsgütern

Der Bun­des­rat begrün­det in sei­nem Bericht den Erlass von Not­recht mit staat­li­chen Schutz­pflich­ten. Der Staat hat gegen­über der Bevöl­ke­rung nicht nur die Pflicht, nicht unver­hält­nis­mäs­sig in die indi­vi­du­el­le Frei­heit ein­zu­grei­fen (nega­ti­ve Unter­las­sungs­pflicht), son­dern auch die Pflicht, aktiv zu wer­den, um das Wohl des Ein­zel­nen und der Gesell­schaft zu wah­ren (posi­ti­ve Schutzpflicht).

Es gehört zu den zen­tra­len Auf­ga­ben der Exe­ku­ti­ve, in unmit­tel­ba­ren und unvor­her­seh­ba­ren Kri­sen Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men und zu han­deln. Der Bun­des­rat wür­de sei­ne staat­li­chen Schutz­pflich­ten ver­let­zen, wenn er untä­tig blie­be, obwohl fun­da­men­ta­le Rechts­gü­ter wie die Gesund­heit und die Ver­sor­gung der Bevöl­ke­rung sowie das Eigen­tum der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger auf dem Spiel ste­hen. Er hat daher nicht nur die Kom­pe­tenz, son­dern auch die Pflicht, Not­recht zu erlas­sen, wenn er sei­nen Schutz­pflich­ten nicht anders nach­kom­men kann.

Die Anschluss­fra­ge lau­tet, wie weit sol­che posi­ti­ven Schutz­pflich­ten des Staa­tes in einem libe­ra­len Rechts­staat gehen dür­fen, ohne dass die nach­ge­la­ger­te Auf­fang­ver­ant­wor­tung des Staa­tes eine unzu­läs­si­ge staat­li­che Bevor­mun­dung dar­stellt oder gar das Ende der Eigen­ver­ant­wor­tung ein­läu­tet. Der Bun­des­rat hält in sei­nem Bericht fest, dass sei­ne Schutz­pflicht nicht auf die klas­si­schen Poli­zei­gü­ter (ins­be­son­de­re Leib und Leben, Frei­heit, öffent­li­che Gesund­heit) beschränkt ist, son­dern ihn auch ver­pflich­ten kann, zum Schutz von ande­ren Rechts­gü­tern (z.B. Sta­bi­li­tät des Finanz- und Wirt­schafts­sys­tems) Not­recht zu erlas­sen. Begrenzt wird die Schutz­pflicht des Bun­des­ra­tes weni­ger durch die Kate­go­rie des Schutz­guts als Poli­zei- oder Wirt­schafts­gut als viel­mehr durch das Kri­te­ri­um der Systemrelevanz.

Der Bericht the­ma­ti­siert zudem die Gren­zen des Not­rechts und kommt zum Schluss, dass Not­ver­ord­nun­gen sich in jedem Fall an das Ver­hält­nis­mäs­sig­keits­prin­zip zu hal­ten haben und unter kei­nen Umstän­den das zwin­gen­de Völ­ker­recht und die not­stands­fes­ten Men­schen­rechts­ga­ran­tien (inter­na­tio­na­les Recht) sowie die Grund­sät­ze des rechts­staat­li­chen Han­delns und die grund­recht­li­chen Kern­ge­hal­te (Ver­fas­sungs­recht) ver­let­zen dürfen.

Um die Hand­lungs­fä­hig­keit in Kri­sen­la­gen sicher­zu­stel­len, muss der Bun­des­rat per Not­ver­ord­nun­gen jedoch auch von bestehen­dem Geset­zes­recht und unter Umstän­den selbst von gewis­sen Ver­fas­sungs­be­stim­mun­gen abwei­chen dür­fen. Beson­de­re Zurück­hal­tung ist aller­dings nament­lich bei der Ein­füh­rung von Straf­be­stim­mun­gen in Not­ver­ord­nun­gen sowie bei Aus­ser­kraft­set­zun­gen des Öffent­lich­keits­prin­zips der Ver­wal­tung geboten.

Ein Blick voraus: Transparenz und Resilienz stärken

Der Bun­des­rat will beim Erlass von Not­recht mehr Trans­pa­renz schaf­fen. Auf­grund der tem­po­rä­ren Macht­kon­zen­tra­ti­on in den Hän­den der Regie­rung kommt dem Bun­des­rat eine erhöh­te Begrün­dungs- und Recht­fer­ti­gungs­pflicht zu. Er will Instru­men­te schaf­fen, um die recht­li­chen Vor­aus­set­zun­gen für den Erlass von Not­recht künf­tig detail­lier­ter zu begrün­den. Damit der Bun­des­rat nur im abso­lu­ten Aus­nah­me­fall auf sei­ne ver­fas­sungs­recht­li­che Not­rechts­kom­pe­tenz zurück­grei­fen muss, will er Not­la­gen anti­zi­pie­ren und auf eine kri­sen­fes­te Gesetz­ge­bung hin­wir­ken. In Spe­zi­al­ge­set­zen sol­len Bestim­mun­gen zur Kri­sen­be­wäl­ti­gung vor­ge­schla­gen wer­den. Dies mit dem Ziel, bereits die ordent­li­che Gesetz­ge­bung für aus­ser­or­dent­li­che Not­la­gen fit zu machen.


Refe­renz: 

Bericht des Bun­des­ra­tes vom 19. Juni 2024 “Anwen­dung von Not­recht” in Erfül­lung der Pos­tu­la­te 23.3438, Kom­mis­si­on für Rechts­fra­gen des Natio­nal­ra­tes vom 24. März 2023 und 20.3440 Schwan­der vom 6. Mai 2020: https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen/bundesrat.msg-id-101478.html. 


Hinweis: Die Autoren dieses Beitrags sind zugleich die zuständigen Mitarbeitenden des Bundesamts für Justiz, die den Bericht des Bundesrates vom 19. Juni 2024 “Anwendung von Notrecht” in Erfüllung der Postulate 23.3438  und 20.3440 verfasst haben. Gewisse Passagen lehnen sich daher sehr stark an den Bericht an. Dieser Beitrag reflektiert einzig die persönliche Auffassung der Autoren und bindet das Bundesamt für Justiz in keiner Weise.

 

Bild: Par­la­ments­diens­te 

 

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