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Notrecht: Fluch, notwendiges Übel oder letzte Rettung?

Carl Jauslin, Marc Schinzel
26th Juni 2024

UBS-Rekapitalisierung 2008, Bekämpfung der Covid-19-Epidemie 2020, Axpo-Rettungsschirm 2022 und behördlich unterstützte Übernahme der CS durch die UBS 2023. Den Fällen ist gemeinsam, dass der Bundesrat von seiner Notrechtskompetenz Gebrauch machte, um diese Krisensituationen zu bewältigen. Im Auftrag des Parlaments hat der Bundesrat im Juni 2024 einen umfassenden Bericht zur Anwendung von Notrecht veröffentlicht.

Der Rückgriff auf Notrecht hat weit über die rechtswissenschaftliche Diskussion hinaus Reaktionen ausgelöst. Einige befürchten die Aushebelung des Rechtsstaates und die Aufgabe der Freiheit. Andere sehen im Notrecht ein notwendiges Übel, um Notlagen zu überwinden. Für weitere schliesslich ist es der ultimative Ausdruck, dass die Regierung in Krisenzeiten Verantwortung übernehmen muss.

In seinem Bericht vom 19. Juni 2024 in Erfüllung der Postulate 23.3438 und 20.3440 anerkennt der Bundesrat die mit dem Notrecht einhergehenden Herausforderungen für den Rechtsstaat, die Demokratie, den Föderalismus und die Menschenrechte (Legitimation staatlichen Handelns). Gleichzeitig werden auch die Herausforderungen für die Krisenbewältigung aus Sicht der Bundesverwaltung aufgezeigt (Effektivität staatlichen Handelns).

Um die Handlungsfähigkeit der Regierung in Krisenzeiten sicherzustellen, die für den Schutz der Interessen des Landes sowie der öffentlichen Sicherheit und Ordnung notwendig ist, räumt die Notrechtskompetenz in den Artikeln 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 der Schweizer Bundesverfassung dem Bundesrat einen grossen Ermessensspielraum ein.

Dies hat eine temporäre Machtverschiebung von den Kantonen zum Bund (vertikale Gewaltenteilung) und vom Parlament zum Bundesrat (horizontale Gewaltenteilung) zur Folge. Vor diesem Hintergrund darf der Bundesrat nur in absoluten Ausnahmefällen und wenn keine ordentlichen Mittel zur Verfügung stehen von seiner Notrechtskompetenz Gebrauch machen.

Ein Blick zurück: Staatliche Schutzpflichten bei systemrelevanten Rechtsgütern

Der Bundesrat begründet in seinem Bericht den Erlass von Notrecht mit staatlichen Schutzpflichten. Der Staat hat gegenüber der Bevölkerung nicht nur die Pflicht, nicht unverhältnismässig in die individuelle Freiheit einzugreifen (negative Unterlassungspflicht), sondern auch die Pflicht, aktiv zu werden, um das Wohl des Einzelnen und der Gesellschaft zu wahren (positive Schutzpflicht).

Es gehört zu den zentralen Aufgaben der Exekutive, in unmittelbaren und unvorhersehbaren Krisen Verantwortung zu übernehmen und zu handeln. Der Bundesrat würde seine staatlichen Schutzpflichten verletzen, wenn er untätig bliebe, obwohl fundamentale Rechtsgüter wie die Gesundheit und die Versorgung der Bevölkerung sowie das Eigentum der Bürgerinnen und Bürger auf dem Spiel stehen. Er hat daher nicht nur die Kompetenz, sondern auch die Pflicht, Notrecht zu erlassen, wenn er seinen Schutzpflichten nicht anders nachkommen kann.

Die Anschlussfrage lautet, wie weit solche positiven Schutzpflichten des Staates in einem liberalen Rechtsstaat gehen dürfen, ohne dass die nachgelagerte Auffangverantwortung des Staates eine unzulässige staatliche Bevormundung darstellt oder gar das Ende der Eigenverantwortung einläutet. Der Bundesrat hält in seinem Bericht fest, dass seine Schutzpflicht nicht auf die klassischen Polizeigüter (insbesondere Leib und Leben, Freiheit, öffentliche Gesundheit) beschränkt ist, sondern ihn auch verpflichten kann, zum Schutz von anderen Rechtsgütern (z.B. Stabilität des Finanz- und Wirtschaftssystems) Notrecht zu erlassen. Begrenzt wird die Schutzpflicht des Bundesrates weniger durch die Kategorie des Schutzguts als Polizei- oder Wirtschaftsgut als vielmehr durch das Kriterium der Systemrelevanz.

Der Bericht thematisiert zudem die Grenzen des Notrechts und kommt zum Schluss, dass Notverordnungen sich in jedem Fall an das Verhältnismässigkeitsprinzip zu halten haben und unter keinen Umständen das zwingende Völkerrecht und die notstandsfesten Menschenrechtsgarantien (internationales Recht) sowie die Grundsätze des rechtsstaatlichen Handelns und die grundrechtlichen Kerngehalte (Verfassungsrecht) verletzen dürfen.

Um die Handlungsfähigkeit in Krisenlagen sicherzustellen, muss der Bundesrat per Notverordnungen jedoch auch von bestehendem Gesetzesrecht und unter Umständen selbst von gewissen Verfassungsbestimmungen abweichen dürfen. Besondere Zurückhaltung ist allerdings namentlich bei der Einführung von Strafbestimmungen in Notverordnungen sowie bei Ausserkraftsetzungen des Öffentlichkeitsprinzips der Verwaltung geboten.

Ein Blick voraus: Transparenz und Resilienz stärken

Der Bundesrat will beim Erlass von Notrecht mehr Transparenz schaffen. Aufgrund der temporären Machtkonzentration in den Händen der Regierung kommt dem Bundesrat eine erhöhte Begründungs- und Rechtfertigungspflicht zu. Er will Instrumente schaffen, um die rechtlichen Voraussetzungen für den Erlass von Notrecht künftig detaillierter zu begründen. Damit der Bundesrat nur im absoluten Ausnahmefall auf seine verfassungsrechtliche Notrechtskompetenz zurückgreifen muss, will er Notlagen antizipieren und auf eine krisenfeste Gesetzgebung hinwirken. In Spezialgesetzen sollen Bestimmungen zur Krisenbewältigung vorgeschlagen werden. Dies mit dem Ziel, bereits die ordentliche Gesetzgebung für ausserordentliche Notlagen fit zu machen.


Referenz: 

Bericht des Bundesrates vom 19. Juni 2024 "Anwendung von Notrecht" in Erfüllung der Postulate 23.3438, Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 24. März 2023 und 20.3440 Schwander vom 6. Mai 2020: https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen/bundesrat.msg-id-101478.html. 


Hinweis: Die Autoren dieses Beitrags sind zugleich die zuständigen Mitarbeitenden des Bundesamts für Justiz, die den Bericht des Bundesrates vom 19. Juni 2024 “Anwendung von Notrecht” in Erfüllung der Postulate 23.3438  und 20.3440 verfasst haben. Gewisse Passagen lehnen sich daher sehr stark an den Bericht an. Dieser Beitrag reflektiert einzig die persönliche Auffassung der Autoren und bindet das Bundesamt für Justiz in keiner Weise.

 

Bild: Parlamentsdienste