Fraktionen im bikameralen Parlament: Parteien sprechen nicht mit einer Stimme

Fraktionsdisziplin, Fraktionszwang, Fraktionstreue: Im Parlament wollen sich alle Parteien durchsetzen. Die Parteien sind daher daran interessiert, dass alle Mitglieder ihrer Fraktion gleich abstimmen. Bisherige Studien beschränken sich auf die Analyse des Abstimmungsverhaltens in nur einer Kammer. Doch wie gut schaffen es die Fraktionen, identische Mehrheiten in beiden Räten zu erreichen?

Die vorherrschende Meinung in Bezug auf die Fraktionsdisziplin bei Abstimmungen im Parlament in der Schweiz ist, dass die Fraktionen der Polparteien SVP, SP und die Grünen im Parlament geschlossener abstimmen als die Fraktionen von FDP, Mitte und GLP (Traber et al. 2014: 196–8). Dieses Muster wurde für den Nationalrat immer wieder bestätigt und auch die noch junge Forschung zur Fraktionsdisziplin im Ständerat verweist in diese Richtung: SVP, SP und Grüne stimmen in beiden Parlamentskammern in der Regel geschlossener ab als FDP, Mitte und GLP (Vatter und Ladner 2020: 47–50).

Neu und bisher noch nicht vollständig geklärt ist die Frage, ob die Fraktionen der Parteien in beiden Ratkammern identisch abstimmen. Kommt es vor, dass die Mehrheit der Ständeratsmitglieder einer Fraktion anders stimmt als die Mehrheit der Nationalratsmitglieder der gleichen Fraktion? Eine systematische Auswertung von Abstimmungsdaten aus Nationalrat und Ständerat geht dieser Frage für die Bundesratsparteien das erste Mal nach und zeigt: Es kommt durchaus vor, dass die Fraktion im Nationalrat und im Ständerat nicht die gleiche Meinung vertritt. 

Die Fraktionen der Grünen und der GLP können nicht einbezogen werden, da diese beiden Parteien im Ständerat über zu wenige Sitze verfügen und die Auswertungen folglich noch stärker als bei den anderen Parteien von Einzelpersonen und deren Abstimmungsverhalten dominiert wäre.

Eine Fraktion, eine Vorlage, zwei Mehrheiten

Die Fraktionen sind aber unterschiedlich stark davon betroffen, dass ihre Vertreter*innen in Nationalrat und Ständerat bei den gleichen Abstimmungen unterschiedliche Mehrheiten bilden.

Bei der SVP ist der Anteil der Abstimmungen mit unterschiedlichen Mehrheitsmeinungen deutlich höher als bei den anderen Fraktionen. Bei insgesamt 144 Abstimmungen votierte die Mehrheit der SVP-Fraktion in 26 Fällen im Nationalrat anders als im Ständerat (18.1%). Weniger oft kam es bei der SP (6 Abstimmungen, 4.2%) und der FDP (2 Abstimmungen, 1.4%) vor. Einzig die Mitte hatte in allen 144 untersuchten Abstimmungen in Nationalrat und Ständerat die gleiche Mehrheitsmeinung. 

Der Ständerat und die Polparteien: Eine turbulente Beziehung

Eine mögliche Erklärung dafür, dass die Fraktionen der Polparteien und besonders die Fraktion der SVP im Ständerat und im Nationalrat hin und wieder nicht die gleiche Meinung vertreten wie im Nationalrat, hat mit der Beschaffenheit des Ständerats zu tun. Ständeratswahlen sind stärker als Nationalratswahlen auf Personen ausgerichtet. Kandidierende müssen eine Mehrheit der Wähler*innen in ihrem Kanton von sich überzeugen. Dieses Merkmal sorgt unter anderem dafür, dass die Polparteien im Ständerat weniger Sitze besetzen, als sie Wähleranteile haben und auch schwächer vertreten sind als im Nationalrat. Überhaupt tendieren Vertreter*innen der Polparteien im Ständerat stärker zur Mitte hin als ihre Kolleg*innen im Nationalrat. Personen, die den Sprung aus dem Nationalrat in den Ständerat schaffen, treten dort zudem in der Regel gemässigter auf als vorher (Vatter und Ladner 2020: 44–7; Bütikofer 2020: 110–5).

Der erste Blick auf den blinden Fleck

Noch bleibt allerdings offen, ob über die institutionellen Merkmale des Ständerats alleine erklärt werden kann, dass die SP und vor allem die SVP öfter ungleiche Mehrheitsmeinungen in National- und Ständerat haben als die Mitte und FDP. Die Analyse hat ebenfalls gezeigt, dass bei Vorlagen, bei denen sich Nationalrät*innen und Ständerät*innen uneinig sind, die Mehrheiten in der Mehrzahl der Fälle klar ausfallen, d.h. dass die unterschiedlichen Mehrheiten nicht durch einzelne Abweichler*innen erklärt werden können. Zum Thema der Fraktions- respektive Parteidisziplin im Parlament der Schweiz tun sich jedenfalls neue Facetten auf. Zwei Kammern sind halt eben komplizierter als eine.


Hinweis: Dieser Artikel fusst auf der Bachelorarbeit mit dem Titel «Kammerübergreifende Fraktionsdisziplin in der Schweiz – Eine deskriptive Analyse der vier Bundesratsparteien», welche der Autor im September 2024 an der Universität Bern erfolgreich abschloss.


Referenzen

  • Bütikofer, S. (2020). Zwischen Partei und Kanton: Von den Besonderheiten des Ständerats und seiner Mitglieder. In Mueller, S. und A. Vatter (Hrsg.), Der Ständerat: Zweite Kammer der Schweiz, Politik und Gesellschaft in der Schweiz. Basel: NZZ Libro (93–118)

  • Traber, D., S. Hug, und P. Sciarini (2014). Party Unity in the Swiss Parliament: The Electoral Connection. The Journal of Legislative Studies 20(2): 193–215

  • Vatter, A. und A. Ladner (2020). Vom Gesandtenkongress zur gewählten Volkskammer: Der Ständerat im Wandel der Zeit. In Mueller, S. und A. Vatter (Hrsg.), Der Ständerat: Zweite Kammer der Schweiz, Politik und Gesellschaft in der Schweiz. Basel: NZZ Libro (35–69)

 

Datenquelle: Abstimmungs-Datenbank (2024). Die Bundesversammlung – Das Schweizer Parlament

Foto: Fotothek Schweizer Parlament

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KategorienSchweizer PolitikThemen
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