Viola Amherd hat ihren Rücktritt per März 2025 bekanntgegeben. Dieser Rücktritt während der Legislatur ist kein Einzelfall. Die grosse Mehrheit der Bundesratsmitglieder gehen während der Legislatur, wie folgende Analyse zeigt.
Ein Rücktritt aus dem Bundesrat erfolgt meist ohne Absprachen mit der Partei oder anderen Bundesratsmitgliedern. Bei Parteien sind Rücktritte während der Legislatur aber beliebt, da sie die Ausmarchung um den dadurch frei werdenden Sitz berechenbarer machen. Rücktritte auf Ende einer Legislatur intensivieren eher die Diskussionen über die Zusammensetzung der Regierung im Vorfeld der eidgenössischen Parlamentswahlen. Dies hätte zur Folge, dass der Status Quo im Bundesrat weniger zementiert werden kann, insbesondere wenn sich die Kräfteverhältnisse im Parlament bei den nationalen Wahlen verändern. Die lange geltenden Zauberformel, auf die die Schweiz so stolz ist, wäre wohl nie eingeführt worden, wären 1959 nicht gleich vier Bundesräte zeitgleich zurückgetreten.
Viola Amherd hat ihren Rücktritt aus dem Bundesrat Mitte Januar 2025 angekündigt. Sie scheidet bereits Ende März 2025 aus der Landesregierung aus. Im Durchschnitt traten seit 1919 sieben von zehn Bundesratsmitgliedern während der laufenden Legislaturperiode zurück. Nur 30 Prozent der Bundesräte traten auf Ende einer Amtszeit zurück bzw. stellten sich nicht mehr zur Wiederwahl.[1] Im Bundesrat herrscht somit eine sehr spezielle Rücktrittskultur, denn im nationalen Parlament oder in den direkt vom Volk gewählten kantonalen Regierungen sind Rücktritte per Ende einer Legislatur die Regel.
Rücktritte aus dem Bundesrat 1919 – 2025
Abbildung : Alix d’Agostino, DeFacto · Daten : FORS
Faktisch keine Regierungswahl
Die Bundesräte werden in der Schweiz jeweils nach den eidgenössischen Wahlen für die Dauer von vier Jahren vom Parlament gewählt. Sie können während ihrer Amtsdauer nicht abgewählt werden. In der Praxis haben die Gesamterneuerungswahlen des Bundesrats durch das Parlament aber kaum den Charakter richtiger Wahlen. Sich der Wiederwahl stellende Regierungsmitglieder werden ritualisiert bestätigt, am interessantesten ist allenfalls, wie hoch die erreichte Stimmenzahl für die einzelnen Regierungsmitglieder ausfällt. Seit 1919 wurden mit Ausnahme von Ruth Metzler im Jahr 2003 und Christoph Blocher im Jahr 2007 sämtliche Bundesrätinnen und Bundesräte, die erneut kandidierten, im ersten Wahlgang mit durchschnittlich über siebzig Prozent der gültigen Stimmen wiedergewählt.[2] Das bedeutet, dass das Parlament die Zusammensetzung der Regierung nur dann beeinflussen kann, wenn es zu einer Vakanz kommt.
Begünstigt wird diese Situation durch das vorherrschende Wahlsystem. Die Mitglieder des Bundesrates werden nicht gemeinsam, sondern einzeln und nacheinander gewählt, was einen enorm stabilisierenden Effekt hat. Parteien haben einen hohen Anreiz, die Mitglieder anderer Parteien zu wählen, weil sie sonst Retourkutschen befürchten müssen, insbesondere dann, wenn ihre eigenen Bundesräte zu den letzten gehören, die wieder gewählt werden müssen. Und wer seine Schäfchen bereits im Trocknen hat, hat keinen Anreiz mehr, Bundesratsmitglieder anderer Parteien zu desavouieren.
Dass die Bundesversammlung darum ihr Wahlrecht bei Gesamterneuerungswahlen faktisch nicht ausübt, führt dazu, dass die Mitglieder des Bundesrates weitgehend autonom sind, darüber zu entscheiden, wann sie zurücktreten. In seltenen Fällen wird dies mit der Partei oder mit anderen Mitgliedern des Bundesrates abgesprochen, in der Regel aber fällen Bundesrätinnen und Bundesräte diesen Entscheid ohne feste Absprachen und darum auch immer wieder überraschend.
Rücktrittsgründe aus dem Bundesrat
In den meisten Fällen erfolgte ein Rücktritt aus persönlichen oder politischen Überlegungen, wenn ein Bundesratsmitglied zum Schluss kam, das Amt genug lange ausgeübt zu haben. Faktoren, die gehäuft zu einem Rücktritt führen, können das abgeschlossene Jahr im Bundespräsidium sein oder wenn ein wichtiges Geschäft aus dem eigenen Departement Erfolg hatte, sei es im Parlament oder bei einer Volksabstimmung. Ein Einzelabgang ermöglicht zudem nochmals eine umfassende Würdigung der geleisteten Arbeit in der Öffentlichkeit – schliesslich wird man als Bundesrat nie mehr gelobt als bevor man kommt oder wenn man geht.
In Einzelfällen erfolgen Rücktritte aus gesundheitlichen Gründen, beispielsweise der CVP-Bundesrat Alphonse Egli, der sein Amt 1986 nach nur vier Jahren im Bundesrat wieder aufgab. Zwei Jahre zuvor war auch der gleichzeitig gewählte FDP-Bundesrat Rudolf Friedrich nach nur zwei Amtsjahren aus ähnlichen Gründen zurückgetreten. Ebenfalls aus gesundheitlichen Gründen trat der SP-Bundesrat René Felber 1993 zurück. Im Falle von Jean Bourgknecht 1962 mussten gar seine Angehörigen den Rücktritt erklären, weil er nach einem Schlaganfall weder sprechen noch schreiben konnte. Die SP- Bundesrätin Simonetta Sommaruga erklärte auf Grund eines familiären Schicksalsschlages überraschend im Herbst 2002 auf Ende 2022 ihren Rücktritt aus der Landesregierung.
In anderen Fällen erfolgt der Rücktritt aus politischem Druck. Elisabeth Kopp, FDP-Mitglied und erste Frau im Bundesrat, trat 1989 zurück, nachdem ihr Amtsgeheimisverletzung vorgeworfen worden war. Auch beim Rücktritt von Samuel Schmid spielte der politische Druck aus den Reihen der SVP eine Rolle. Er war ursprünglich als nicht offizieller SVP-Bundesrat ins Amt gewählt worden. Nach der Nicht-Wiederwahl von Christoph Blocher trat er 2008 aus der SVP aus und der neu gegründeten BDP bei. Er stand danach unter ständiger Kritik seiner ehemaligen Partei. Auch auf seine BDP-Parteikollegin Eveline Widmer-Schlumpf wurde nach den eidgenössischen Wahlen 2015 erheblichen Druck ausgeübt, nicht mehr anzutreten, nachdem die SVP stark zulegen konnte und die BDP bereits wieder Wähleranteile verlor. Sie kam mit ihrem Rücktrittsentscheid einer drohenden Nichtwiederwahl zuvor.
FDP und CVP-Bundesräte gehen häufiger während der Legislatur
Zwischen den Parteien zeigen sich Unterschiede in Bezug auf den Zeitpunkt des Rücktritts. Bei der FDP und der CVP erfolgten seit 1919 drei von vier Rücktritten während der Legislatur. Bei der SP und der SVP war es nur etwa zwei von fünf.
Rücktritte während der Legislatur sind allerdings kein neues Phänomen. In den letzten hundert Jahren fand die Mehrheit der Rücktritte während der Legislatur statt. Etwas häufiger waren Rücktritte auf Ende der Legislatur zwischen 1919 und 1959. Allerdings erfolgte auch in dieser Zeit die Mehrheit der Rücktritte während der Legislatur. Seltenheitswert hatten Rücktritte per Ende eines Mandates zwischen 1960-1979, d.h. direkt nach der Einführung der Zauberformel. In dieser Zeit traten nur gerade zwei von dreizehn Bundesräten per Ende einer Amtszeit zurück. Seither ist der Anteil Rücktritte auf Ende Legislatur eher wieder etwas grösser geworden.
Rücktritte aus Bundesrat von 1919-2025: Anteil während bzw. Anfang Legislatur in Prozent nach Partei sowie Periode
Abbildung : Alix d’Agostino, DeFacto · Daten : FORS
Parteipolitisches Kalkül
Den Parteien kommen Rücktritte während einer Legislatur in der Regel entgegen, denn Rücktrittserklärungen führen dazu, dass die zur Wahl vorgeschlagenen Personen und ihre Partei über viele Wochen oder gar Monate im Rampenlicht stehen. Bundesratswahlen generieren in den Medien eine sehr hohe Aufmerksamkeit, die Parteien zunehmend auch gezielt zu nutzen versuchen. Diverse Parteien haben in den vergangenen Jahrzehnten die interne Kandidierendenkür als Roadshow inszeniert und öffentliche Hearings in allen Landesteilen organisiert. Obwohl das Volk bei der Wahl von Bundesräten gar nichts zu sagen hat, präsentierten sich dabei die Kandidierenden an diversen Anlässen in der ganzen Schweiz Volk und Medien.
In manchen Fällen hilft hingegen der Rücktritt des eigenen Bundesrats einer Partei, sich kurz vor den eidgenössischen Wahlen in ein gutes Licht zu rücken. So trat beispielsweise der Sozialdemokrat Otto Stich per Ende Oktober 1995 zurück. Die Ergänzungswahl erfolgte in der Herbstsession ein paar Wochen vor den eidgenössischen Wahlen und führte dazu, dass die SP viel Medienpräsenz hatte. Einen ähnlichen Effekt hat allerdings auch der Entscheid von SP-Bundesrat Alain Berset 2023 nicht mehr für eine weitere Amtsperiode anzutreten. Die SP-interne Kür der Kandidierenden wurde während dem ganzen Wahlkampf für die National- und Ständeratswahlen 2023 medial ausführlich begleitet
Beim Doppelrücktritt der CVP-Bundesräte Arnold Koller und Flavio Cotti 1999 nur gerade sechs Monate vor den eidgenössischen Wahlen half der eigenen Partei zentral dabei, ihre beiden Bundesratssitze vorerst zu sichern. Die CVP befürchtete zu Recht, bei den im gleichen Jahr anstehenden Parlamentswahlen von der SVP als drittstärkste Partei abgelöst zu werden. Um zu verhindern, dass einer der CVP-Sitze im Bundesrat massiv unter Druck kommt, erfolgten die Rücktritte der beiden Magistraten darum koordiniert noch vor den eidgenössischen Wahlen. Ohne dieses Manöver wäre es für die CVP wohl schwierig gewesen, ihre zwei Bundesratssitze zu halten. Vier Jahre später ging dann allerdings ein CVP-Sitz verloren, als Christoph Blocher anstelle von Ruth Metzler in den Bundesrat gewählt wurde.
Weniger Strategie, mehr echte Wahlen bei Rücktritten am Ende der Legislatur?
Die sehr hohe Stabilität in der Regierung sowohl personell als auch in der parteipolitischen Zusammensetzung ist zweifelsohne eine grosse Stärke des schweizerischen politischen Systems und Garant für politische Kontinuität. Rücktritte während der Legislatur sind für die Parteien berechenbarer und übersichtlicher. Im Zuge von anstehenden Bundesratswahlen werden jeweils viele verschiedene Kriterien wie Herkunftsregion, Sprache, Geschlecht sowie politische Ausrichtung der Kandidierenden diskutiert. Eine Einzelvakanz schränkt diesen Katalog ein und vereinfacht es den Parteispitzen, den Prozess zu steuern.
Auch wenn Rücktritte während der Legislatur rechtlich möglich und sowohl individuell wie aus Sicht der Parteien nachvollziehbar sind, wäre eine Änderung der Gewohnheit, in der Regel während und nicht am Ende einer Amtszeit zurückzutreten, wünschenswert. Würden am Ende einer Legislatur mehrere Vakanzen anstehen, wäre eine breitere Diskussion über die künftige Zusammensetzung der Regierung möglich, was auch das Kandidierendenfeld erheblich vergrössern würde. Damit würden die Gesamterneuerungswahlen auch zu echten Regierungswahlen, was die öffentliche Debatte im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen beleben würde und mobilisierend wirken könnte.
Der noch amtierende Mitte-Präsident Gerhard Pfister ging im Sommer 2024 sogar noch weiter, als er in einer parlamentarischen Initiative forderte, im Parlamentsgesetz zu verankern, dass für Mitglieder des Bundesrates Rücktritte vor Ablauf der Amtszeit nur aus ausserordentlichen Gründen zulässig sein sollten.
Dieser grössere Spielraum über die personelle Zusammensetzung und damit das Kandidatenfeld bei mehreren Vakanzen würde die Parteien dazu zwingen, sich im Vorfeld untereinander zu koordinieren – wie das in anderen Ländern, in denen viele Parteien an der Regierung beteiligt sind, durchaus üblich ist. Und was auch in der Schweiz schon einmal der Fall war: Als es 1959 per Ende der Legislatur im Bundesrat gleich vier Vakanzen gab, ermöglichten politische und strategische Absprachen die Einführung der Zauberformel und damit das Prinzip, dass alle grossen Parteien gemäss ihrer Stärke im Bundesrat vertreten sein sollten. Ohne gleichzeitige Rücktritte wäre dieser historische Schritt wohl nicht möglich gewesen. Auch in der aktuellen Situation, in der die Zusammensetzung des Bundesrates die Kräfteverhältnisse im Parlament ungenügend abbildet, wären Mehrfachvakanzen hilfreich, die Regierung politisch neu auszubalancieren.
Hinweis: Dieser Beitrag ist eine aktualisierte Version, hier geht’s zur Erstpublikation.
[1] Nicht mitgezählt sind drei Bundesräte, die im Amt verstarben (Karl Scheurer FDP 1929, Guiseppe Motta CVP 1940, Markus Feldmann SVP 1958) sowie die Wahlen von Ruth Metzler CVP 2003 und Christoph Blocher SVP 2007, die nicht zurücktraten, sondern nicht wiedergewählt wurden. Hingegen wurden Josef Escher CVP 1954 sowie Willi Ritschard SP 1983 mitgezählt, da sie zwar noch im Amt verstarben, aber zuvor ihren Rücktritt erklärt hatten.
[2] Es gab ingesamt in der Geschichte der Bundesratswahlen nur vier Nicht-Wiederwahlen, neben den zwei erwähnten zwei weitere im 19. Jahrhundert.
Bild: Bundesratsfoto 2025