Die Auswirkungen rechtsbürgerlicher Politik auf die Sozialversichungsgesetzgebung in der Schweiz

Die Diskussion über den Missbrauch von Sozialleistungen ist in der Schweiz ein politisch aufgeladenes Thema. Die Positionen rechtsbürgerlicher Parteien gewinnen auf allen Staatsebenen mehr Einfluss auf die Sozialpolitik. Die vorliegende Analyse beleuchtet diese Entwicklung der letzten Jahre in der Schweiz und zeigt anhand von drei Beispielen, wie rechtsbürgerliche Forderungen in Gesetzgebung und Praxis umgesetzt wurden.

Die Schweiz verfügt über ein komplexes System von Sozialversicherungen, das alle Staatsebenen umfasst. Während Versicherungen wie die Invaliden- oder Arbeitslosenversicherung auf Bundesebene geregelt sind, obliegt die Ausgestaltung der Sozialhilfe den Kantonen. Diese Vielfalt führt zu kantonal unterschiedlichen Leistungen. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) stellt zwar Richtlinien bereit, die allerdings für die Kantone nicht verbindlich sind. Somit sorgt das föderale System für eine uneinheitliche Anwendung und schafft Spielräume für politische Eingriffe.

Im internationalen Vergleich ist die Schweizer Sozialhilfe durch eine weitere Besonderheit gekennzeichnet: Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern gilt Sozialhilfe in der Schweiz als eine Schuld, die unter gewissen Bedingungen zurückbezahlt werden muss. Zudem ist der Bezug von Sozialhilfe für Migrant:innen generell problematisch, da er ihren Aufenthaltstitel gefährden kann. Diese rechtlichen und politischen Besonderheiten schaffen speziell für vulnerable Gruppen ein Klima der Unsicherheit.

Die populistische Rhetorik der rechtsbürgerlichen Sozialpolitik

Ein Beispiel für die Umsetzung rechtsbürgerlicher Politik und die Rolle der SVP ist die Einführung von sogenannten Sozialdetektiv:innen. Ermöglicht durch einen Vorstoss der SVP, stellte die Gemeinde Emmen im Jahr 2004 den ersten ‚Sozialdetektiv‘ der Schweiz. Im Positionspapier der SVP Schweiz von 2008 erscheint die Forderung nach der Einführung von Sozialdetektiv:innen bereits als zentraler Punkt. Die Partei argumentierte, dass ohne verstärkte Überwachung der Personen, die Sozialversicherungen beziehen, ein massiver Missbrauch drohe und die ‘wirklich Bedürftigen’ dadurch benachteiligt würden.

Seit 2019 erlaubt das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) verdeckte Beobachtungen von Sozialleistungsbeziehenden, einschliesslich der Nutzung technischer Hilfsmittel wie Kameras. Kritiker:innen sehen darin einen Eingriff in die Privatsphäre und warnen vor einer Stigmatisierung von Sozialhilfebeziehenden.

Die Rhetorik der SVP ist von Bildern wie ‘Ferrari fahren und Sozialhilfe beziehen‘ geprägt. Die Notwendigkeit der Kontrollen wird in Wortmeldungen von Politiker:innen der Partei damit begründet, dass mittels Kontrollen das Vertrauen der Bevölkerung in die Sozialwerke gestärkt, Missbrauch verhindert und gleichzeitig Ausgaben reduziert werden können. Expert:innen für Sozialversicherungsfragen kritisieren hingegen, dass diese Massnahmen vor allem dazu beitragen, Vorurteile zu verstärken und soziale Spannungen zu verschärfen. Die Argumentation der SVP ist sachlich zwar unhaltbar, zeigt aber deutlich auf, wie stark populistische Elemente in die Debatte einfliessen.

Politik für leistungswillige und gegen leistungsunwillige Personen

Ein andere Forderung der SVP ist, dass die Sozialhilfe nur so hoch sein darf, dass sich Erwerbsarbeit finanziell mehr lohnt. Die Partei argumentiert in ihren Positionspapieren von 2008 und 2015, sowie im Parteiprogramm 2023, dass Sozialhilfekürzungen notwendig seien, um die Arbeitsmoral der Betroffenen zu stärken. Diese Forderung führte zu zahlreichen kantonalen Vorstössen, die Sozialhilfeleistungen zu reduzieren, so auch für vorläufig aufgenommene Ausländer:innen. Die SVP begründet diese Forderung mit der vermeintlichen Gefahr, dass zu hohe Sozialhilfeleistungen Menschen von der Erwerbstätigkeit abhalten würden. Dabei wird betont, dass nur eine strikte Trennung zwischen ‘leistungswilligen’ und ‘unwilligen’ Personen den Sozialstaat entlasten könne. Diese restriktiven Positionen werden auch von anderen Parteien aus dem rechtsliberalen Spektrum unterstützt, so beispielsweise der FDP. Durch diese Unterstützung erreichen die SVP-Positionen letztendlich parlamentarischen Mehrheiten.

Kürzungen trotz gegenteiligem Volksentscheid im Kanton Bern

Im Kanton Bern präsentierte der 2016 neu gewählte SVP-Regierungsrat Pierre Alain Schnegg dem Grossen Rat des Kantons Bern im November 2017 eine Gesetzesvorlage mit dem Ziel, die Sozialhilfe insbesondere für vorläufig aufgenommene Ausländer:innen zu reduzieren. Die darauf folgende kantonale Abstimmung fand am 19. Mai 2019 statt und wurde in den Medien als Testfall für die übrige Schweiz betrachtet. Die Vorlage wurde von der stimmberechtigen Berner Bevölkerung mit 52,6% abgelehnt.

Obwohl das Stimmvolk die Kürzungen der Sozialhilfe ablehnte, wurden diese mittels Verordnungen umgesetzt, was zu Anfechtungen führte. Das kantonale Verwaltungsgericht Bern entschied in Bezug auf eine diesbezügliche Beschwerde im Jahr 2022, dass eine Kürzung der Sozialhilfe erlaubt sei. Allerdings anstelle von dreissig Prozent nur um 15 Prozent. Die vorgebrachte Begründung lautete, dass die Kantone in der Sozialhilfe bei vorläufig aufgenommenen Ausländer:innen Kürzungen vornehmen dürfen (Art. 86 Abs. 1 AIG), gleichzeitig aber ein Interesse an einer schnellen Arbeitsmarktintegration bestehe. Zudem müsse auch die Aufenthaltsdauer einer Person mit berücksichtigt werden.

Der Kanton Bern passte als Folge auf das Urteil die entsprechende Verordnung erneut an und setzte diese am 1. Januar 2023 in Kraft. Vorläufig Aufgenommene erhalten nun während zehn Jahren weiterhin den um rund 30 Prozent gekürzten Ansatz der Sozialhilfe. Nach Ablauf der zehn Jahre erhalten sie nur noch 15 Prozent weniger als die einheimische Bevölkerung, sofern sie noch Sozialhilfe beziehen.

Die Auswirkungen solcher Massnahmen sind bedeutsam: Sie verstärken die soziale Prekarität und schaffen zusätzliche Hindernisse für die Integration in den Arbeitsmarkt. Kritiker:innen weisen darauf hin, dass eine restriktive Praxis strukturelle Ursachen von Armut ignoriert. Die Befürwortenden in der Politik, namentlich die SVP, argumentieren, dass diese Massnahmen dazu beitragen, das Sozialsystems vor Missbrauch zu schützen.

Sozialhilfeeinsparungen auf Gemeindeebene 

Auf Gemeindeebene sind ebenfalls Initiativen zur Umsetzung der rechtsbürgerlichen Sozialpolitik zu finden. So entschied beispielsweise die Gemeinde Aarburg (AG), wo die im Herbst 2024 in den Aargauer Regierungsrat gewählte SVP-Politikerin Martina Bircher als Sozialvorsteherin amtierte, aus der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe auszutreten. Die Gemeinde kürzte die finanziellen Beiträge der Sozialhilfe stark und führte Kontrollen ein, unter anderem auch unangekündigte Hausbesuche. 

Wie aus der Sozialpolitik  Migrationspolitik wurde

Die einzelnen Beispiele zeigen, wie die rechtsbürgerliche Politik die Sozialpolitik in der Schweiz herausfordert. Rechtsbürgerliche Sozialpolitik folgt oft einer neoliberalen Logik der Kostenreduktion, verstärkt aber gleichzeitig soziale Differenzen zwischen einheimischer und ausländischer Bevölkerung. Die politische Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung der Sozialpolitik ist zudem immer mehr von vereinfachenden und teils falschen Annahmen geprägt. Der Fokus der aktuellen Sozialpolitik richtet sich daher immer weniger auf die strukturellen Ursachen von Armut und immer mehr auf die individuelle Verantwortung.

Ein auch in der Schweiz zu beobachtendes Merkmal im Diskurs der rechtsbürgerlichen Politik ist die starke Verbindung von Sozial- und Migrationspolitik. Durch die zum Teil gezielte Stigmatisierung bestimmter sozialer Gruppen, insbesondere von Migrant:innen, wird ein Klima geschaffen, das Misstrauen und soziale Spaltung fördert.

Der rechtsbürgerliche politische Einfluss in die Ausgestaltung der Sozialversicherungen in der Schweiz zeigt deutlich, wie politische Ideologien soziale Sicherheit beeinflussen können. Während ergriffene Massnahmen zur Reduktion von Sozialhilfe oft mit Kostenargumenten gerechtfertigt werden, bleiben ihre langfristigen sozialen und ethischen Auswirkungen weitgehend unbeachtet. Um soziale Gerechtigkeit zu wahren, bedarf es primär einer differenzierten und inklusiven Diskussion über die Rolle des Sozialstaates. Dabei sollten vor allem die strukturelle Ursachen von Armut stärker in den Fokus rücken, um nachhaltige Lösungen zu entwickeln, die allen Bevölkerungsgruppen gerecht werden.


Referenz: 

  • Stefanie Kurt und Lisa Marie Borrelli (2024): Rechtsbürgerliche Politik und ihr Einfluss auf die sozialpolitische Gesetzgebung in der Schweiz: Drei illustrative Beispiele. In: Rechte Sozialpolitik in Europa, Widersprüche 174, Dezember 2024, Seiten 65-77.

Dieser Beitrag wurde von Raed Hartmann, DeFacto, bearbeitet.

Bild: unsplash.com

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KategorienSchweizer Politik, Swiss PoliticsThemen
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