Einen Schlussstrich unter Covid-19 ziehen? Keine gute Idee

Noch einmal über unsere Entscheidungen und Verhaltensweisen während der Pandemie sprechen? Die Lust dazu hält sich in Grenzen. Diese Zurückhaltung ist verständlich, hindert uns aber daran, uns besser auf die nächste Gesundheitskrise vorzubereiten. Denn obwohl Covid-19 der Vergangenheit anzugehören scheint, sind Massenerkrankungen auch Teil unserer Zukunft.

Die Covid-19-Pandemie hat weltweit für Aufsehen gesorgt. Im Westen aber scheint sie bereits in Vergessenheit zu geraten, ersetzt durch Sorgen über Kriege, den Klimawandel oder auch die Polarisierung der Gesellschaft. Der Umgang mit dem Coronavirus hat unsere sozialen und politischen Gewohnheiten erschüttert, scheint aber nicht Gegenstand einer echten politischen oder gesellschaftlichen Debatte zu sein. Wollen wir die Vergangenheit hinter uns lassen und Covid-19 am liebsten einfach vergessen? Mehrere Forschungsgruppen des Nationalen Forschungsprogramms «Covid-19 in der Gesellschaft» (NFP 80) haben sich im Rahmen ihrer Arbeit mit dieser Frage auseinandergesetzt.

«Ich habe den Eindruck, dass die Bevölkerung eine gewisse Müdigkeit in Bezug auf das Thema verspürt», sagt Nadine Frei von der Universität Basel, die im Rahmen des NFP 80 Corona-Proteste untersucht. Sie erwähnt das Beispiel einer Gemeinderätin aus einem kleinen Dorf, die sich weigerte, an ihrer Studie teilzunehmen – vielleicht aus Angst, diese früheren Spannungen wieder aufleben zu lassen. Während der Pandemie hatte sie Schutzmassnahmen in einem Umfeld umsetzen müssen, das diesen Massnahmen generell ablehnend gegenüberstand.

Doch nicht alle zögern, wenn es darum geht, auf diese schwierige Zeit zurückzublicken. Menschen, die Schutzmassnahmen wie das Maskentragen, die Impfung oder Zertifikate kritisiert haben, sprechen immer noch sehr gerne darüber, so die Soziologin. «Das ist ein ausgeprägtes Phänomen bei Protestierenden, die sich verschwörungstheoretischen Narrativen oder esoterischen Gesundheitsbewegungen verschrieben haben. Sie bringen auch heute noch ein starkes Bedürfnis zum Ausdruck, andere davon zu überzeugen, dass sie Recht hatten und immer noch haben». Eine andere Gruppe von Gegnern, die von libertären Grundsätzen motiviert sind, insbesondere in ländlichen Gebieten, spricht ebenfalls gerne davon.

Spannungen vermeiden

Die Pandemie war von einer starken Polarisierung geprägt zwischen Menschen, welche die Massnahmen des Bundes unterstützten, und jenen, die sie ablehnten. Diese Spaltung hat Spuren hinterlassen, stellen Federico Germani und Giovanni Spitale von der Universität Zürich fest, die im Rahmen des NFP 80 die Diskussionen über die Pandemie in den sozialen Netzwerken und insbesondere die Infodemie analysieren. «Wir haben mehrfach beobachtet, dass Bekannte, die während der Pandemie aufgehört hatten, miteinander zu sprechen, wieder Kontakt zueinander aufgenommen haben und sich erneut gut verstehen», sagt Giovanni Spitale. «Sie vermeiden es, auf ihre früheren Meinungsverschiedenheiten zurückzukommen, wahrscheinlich um das Risiko angespannter Diskussionen zu vermeiden.» Diese Haltung sei zwar verständlich, aber auf gesellschaftlicher Ebene problematisch, so der Forscher weiter: «Wir müssen uns heute mit unseren früheren Positionen auseinandersetzen, unsere Meinungsverschiedenheiten diskutieren und auf einen Konsens hinarbeiten. Andernfalls werden wir nie in der Lage sein, eine stabile politische Vision zum Umgang mit künftigen Pandemien zu entwickeln. Wir können uns nicht auf die Zukunft vorbereiten, wenn wir die Vergangenheit vergessen.»

Im Juni 2024 hat die Schweizer Stimmbevölkerung die Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit», die eine mögliche Impfpflicht verbieten wollte, mit einem Nein-Anteil von über 73% weitgehend abgelehnt. Die Kampagne war überraschend ruhig verlaufen bei einem Thema, das die Gesellschaft einige Jahre zuvor noch tief gespalten hatte. Ein Resultat und eine Ruhe, die zum Teil auf den Wunsch zurückzuführen sein könnten, sich nicht mehr wegen Corona streiten zu wollen. «Leider neigen Institutionen dazu, das Coronavirus etwas zu schnell hinter sich zu lassen», fügt Federico Germani hinzu: «Die Erklärung der WHO vom Mai 2023, wonach Covid-19 nicht mehr als Notstand für die öffentliche Gesundheit gilt, hatte einen starken Einfluss auf die Aufmerksamkeit der staatlichen Institutionen und Regierungen. Die Finanzierung von Forschungsprojekten versiegt auf internationaler Ebene, obwohl wir bei weitem nicht alle Lehren aus der Pandemie gezogen haben.»

«Nicht alle Institutionen sind bereit, ihre Arbeitsweise grundlegend zu überdenken», fährt der Forscher fort: «Während der Pandemie haben wir häufig gehört, dass wir die Lehren ziehen und die Gelegenheit nutzen werden, um uns zu verändern und um widerstandsfähiger zu werden. Aber ich sehe eher kleine, provisorische Anpassungen, die aus dem Moment heraus entstehen, jedoch kaum grössere strukturelle Veränderungen, die uns in die Lage versetzen würden, besser mit dem nächsten Gesundheitsnotstand umzugehen.»

Zwischen Müdigkeit und dem Wunsch, darüber zu sprechen

«Erfahrungsberichte über die Zeit der Pandemie zu sammeln, war nicht immer einfach», erzählt Daniel Drewniak von der Universität Zürich. Der Soziologe analysiert im Rahmen des NFP 80, wie Pflegeheime für ältere Menschen mit den Schutzmassnahmen gegen Covid-19 umgegangen sind. Er untersucht die Auswirkungen auf das Personal und auf das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner. «Wir müssen viele institutionelle Hürden nehmen, bevor wir mit dem Pflegepersonal sprechen können», erklärt er. Dieses ist müde von langen Arbeitszeiten und sieht nicht immer einen Sinn darin, an der x-ten Covid-Umfrage teilzunehmen, während die Dokumentationsarbeit bereits einen grossen Teil seiner Tage beansprucht. Auf institutioneller Ebene sei die Pandemie oftmals in schlechter Erinnerung geblieben, fährt der Forscher fort. Die Pflicht, die von den Behörden beschlossenen Schutzmassnahmen rigoros umzusetzen, liess den Institutionen nur sehr wenig Spielraum – ein Verlust an Autonomie, an den sich die Einrichtungen nicht unbedingt erinnern wollen.

Aber auch hier gilt, dass dieses Phänomen nicht universell ist. Bestimmte Berufsgruppen sind durchaus gesprächsbereit. Lisa Marie Borrelli von der Fachhochschule HES-SO Valais-Wallis berichtet, dass sie keine Schwierigkeiten bei der Befragung von Fachleuten der sozialen Arbeit gehabt habe. Sie befragte diese im Rahmen eines Forschungsprojekts des NFP 80 zu ihren Erfahrungen mit Covid-19 sowie zur Unterstützung, die sie Menschen am Rande der Gesellschaft haben zukommen lassen. «Die Rücklaufquote war hoch, höher als bei anderen ähnlichen Projekten», erzählt die Soziologin. Die Menschen seien eindeutig daran interessiert gewesen, über die Zeit der Pandemie zu sprechen. Sie sei zwar einschränkend gewesen, habe ihnen aber auch einen gewissen Freiraum gegeben. Die Fachpersonen hätten berichtet, dass sie kreative Lösungen entwickeln konnten, die unter anderen Umständen wahrscheinlich nicht akzeptiert worden wären, beispielsweise der Abbau bürokratischer Schritte bei der Gewährung finanzieller Unterstützung an Bedürftige. Die Forscherin weist jedoch auch auf eine Gefahr hin: «Ein Grossteil des Wissens über diese besondere Zeit wird nicht von Institutionen, sondern von Einzelpersonen getragen. Es besteht also die Gefahr, dass es verloren geht.»

Unsere Erinnerungen sind verzerrt

Und Erinnerungen – sofern Menschen überhaupt bereit sind, in die Vergangenheit einzutauchen – sind nicht immer zuverlässig (siehe auch «Dringend gesucht: Erinnerung»). «Dies ist in den Sozialwissenschaften und in der Psychologie eine bekannte Tatsache», erklärt Robert Böhm von der Universität Wien, der nicht am NFP 80 beteiligt ist. «Dennoch bleibt es schwierig, das Ausmass der Gedächtnisverzerrung und die Faktoren, die sie beeinflussen, zu analysieren, da es oft an objektiven Daten fehle, mit welchen man die von Menschen geäusserten Erinnerungen vergleichen kann. Covid-19 hat uns eine einzigartige Gelegenheit geboten, das Gedächtnis mit der Realität zu konfrontieren, indem wir Umfragen nutzten, die während der Pandemie durchgeführt worden waren, und die wir jetzt als Vergleichswerte heranziehen konnten.»

Sein Team konnte zeigen, dass die Erinnerung an frühere Meinungen und Wahrnehmungen – etwa über die Wahrscheinlichkeit einer Infektion, das Vertrauen in die Institutionen oder das Tragen einer Maske – stark von der aktuellen Meinung und Wahrnehmung einer Person abhängt. Dies wird besonders deutlich, wenn Menschen ihre Meinung ändern: Jemand, der heute gegen das Tragen einer Maske ist, dies aber in Umfragen während der Pandemie nicht geäussert hatte, neigt dazu, die frühere Ablehnung zu überschätzen. Die Studie zeigt auch, dass geimpfte Personen das Infektionsrisiko, das sie damals wahrgenommen haben, überschätzten. «Unsere Ergebnisse zeigen auch, dass die Polarisierung im Umgang mit der Pandemie heute grösser ist als damals», kommentiert der Psychologieforscher. «Dies ist ein Punkt, den man berücksichtigen sollte, wenn man antizipieren will, ob die Bevölkerung bei einer nächsten Gesundheitskrise bereit wäre, Massnahmen zu befolgen – oder nicht.» Aber unsere Erinnerungen bleiben auch in verzerrter Form nützlich, sagt Lisa Marie Borrelli von der HES-SO Valais-Wallis: «Die Gesellschaft muss sich ab jetzt auf neue Pandemien vorbereiten. Wenn es darum geht, die Zukunft zu gestalten, ist das, was wir heute denken, genauso wichtig wie das, was wir in der Vergangenheit gedacht haben».

Keine Zukunft ohne Vergangenheit

Auch die Versprechen, dass man aus der Pandemie lernen würde, um eine solche Situation nie wieder zu erleben, wurden vergessen, bedauert Federico Germani von der Universität Zürich. «Die Epidemie der Spanischen Grippe von 1918-1920 forderte zwischen 25 und 50 Millionen Todesopfer – mehr als der Erste Weltkrieg –, aber die Erinnerung daran verblasste schnell. An Kriege und Naturkatastrophen erinnert man sich eher, hier gibt es oft einen Schuldigen – den Feind, die Elemente –, sowie eine Art nationalen Zusammenhalt und Gedenkfeiern für die Helden und Opfer. Doch bei Covid-19 war es anders. Das Coronavirus hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack und ein Gefühl der gesellschaftlichen Spaltung.»

«Prävention ist nicht heroisch», erinnert Daniel Drewniak von der Universität Zürich und zitiert den Epidemiologen Christian Drosten und das Präventionsparadoxon von Geoffrey Rose. «Die Menschen sind wenig motiviert, über die Zukunft nachzudenken, wie man an der Bedrohung durch den Klimawandel sehen kann. Meiner Meinung nach ist es notwendig, einen Raum für diese Diskussionen zu schaffen und die Menschen zu ermutigen, sich daran zu beteiligen.»

Alle Forschenden betonten, wie wichtig es ist, sich auf zukünftige Pandemien vorzubereiten. Um dies zu tun, ist die Erinnerung an Covid-19 von entscheidender Bedeutung. Aber, wie Nadine Frei sagt: «Ob man sich erinnert oder vergisst, ist immer auch eine politische Frage».


Referenzen

NFP 80, Forschungsprojekt «Coronaproteste im Vergleich»

NFP 80, Forschungsprojekt «Den öffentlichen Diskurs stärken»

NFP 80, Forschungsprojekt «Pandemiebekämpfung in Pflegeheimen»

NFP 80, Forschungsprojekt «An vorderer Front in humanitären Krisen»

Anmerkung: Dieser Artikel wurde von Raed Hartmann, DeFacto, bearbeitet.

 

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KategorienÖffentliche Verwaltung, Schweizer Politik, UnkategorisiertThemen
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