Seit 1848 wurden in der Schweiz mehr als 670 Volksabstimmungen über eine breite Spanne von Themen durchgeführt, von der Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 bis zur Hornkuh-Initiative von 2018. Ein jüngst erschienenes Buch der beiden Historiker und Journalisten David Hesse und Philipp Loser beleuchtet die wichtigsten dreissig Abstimmungsentscheide.
Auf der Datenbank «Swissvotes.ch» des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Bern findet sich zu sämtlichen eidgenössischen Volksabstimmungen seit 1848 eine Fülle von Informationen. Diese können unter verschiedenen Fragestellungen untersucht werden, so etwa nach Themen, Urheberschaft oder Polarisierungsstärke nach regionalen oder individuellen Merkmalen (z. B. Sprachen- oder Geschlechtergraben).
Dreissig wichtige Abstimmungsentscheide
David Hesse und Philipp Loser richten in ihrer Publikation den Fokus auf jene dreissig Volksabstimmungen, welche die Schweiz am stärksten und nachhaltigsten verändert haben. Für die Bestimmung dieser Abstimmungsvorlagen aktivierten die beiden Autoren ihr historisches Wissen und erstellten unabhängig voneinander je eine Liste mit dreissig Abstimmungstiteln, welche sie anschliessend abglichen. Nach weiteren Abklärungen und Gespräche mit Dritten standen schliessslich die dreissig wichtigsten Volksabstimmungen fest.
Diesen widmen David Hesse und Philipp Loser in ihrem Buch je ein Kapitel, angenehm portioniert und leicht verständlich geschrieben. Die Kapitel haben alle denselben Aufbau: Vorgeschichte, Abstimmungsdebatte (und Ergebnis) sowie Wirkung. In den ersten beiden Abschnitten gibt es eine Ähnlichkeit mit den Darstellungen auf der Datenbank «Swissvotes.ch» bzw. deren Vorgänger-Publikation, dem «Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848–2007» von Wolf Linder et al. (Bern 2010: Haupt-Verlag). Mit dem dritten Abschnitt über die Wirkung der Volksabstimmungen – dem Haupanliegen des Buches – gehen David Hesse und Philipp Loser aber über «Swissvotes.ch» hinaus.
Tour d’horizont durch die Geschichte der Schweiz
Die beiden Autoren beginnen mit der Volksabstimmung über die Totalrevision der Bundesverfassung von 1874. Diese brachte der Schweiz Grundrechte wie die Niederlassungs-, Handels- und Gewerbe- oder die Kultusfreiheit. Sie trieb ferner die Säkularisierung der Schweiz voran und gab mit der Einführung des fakultativen Gesetzesreferendums den «Startschuss für die direkte Demokratie».
Indem David Hesse und Philipp Loser die wichtigsten Abstimmungsvorlagen in historischer Reihenfolge präsentieren, wird das Buch auch zu einem Tour d’horizont durch die Geschichte der Schweiz. Für das 19. Jahrhundert wird das Fabrikgesetz (Kapitelüberschrift: «Innovativer Arbeitnehmerschutz in den Fabriken») vorgestellt, das Schächtverbot («Die erste Volksinitiative grenzt aus») und das Eisenbahngesetz («Die Geburt der SBB»).
Von den knapp hundert Abstimmungsvorlagen der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert waren für die beiden Autoren sechs Volksabstimmungen nachhaltig wichtig. Die 1915 deutlich angenommene «einmalige» Kriegssteuer, auf das Erwerbseinkommen erhoben, wurde 1919 zu einer «ausserordentlichen» Kriegsteuer, aus der dann nach einigen Jahrzehnten die direkte Bundessteuer wurde. Die Einführung der Proporzwahl für Nationalratswahlen 1918 brach – im dritten Anlauf – die Vorherrschaft der FDP und verhalf vor allem der markant untervertretenen SP zur gerechteren Vertretung. 1938 wurde das moderne («humane») Strafgesetzbuch eingeführt, gegen den Widerstand der Konservativen und Föderalisten und vierzig Jahre nach dem Grundsatzentscheid, das Strafrecht national zu vereinheitlichen.
Im selben Jahr wurde, als patriotischer Akt, das Rätoromanische als Nationalsprache anerkannt und 1949 – staatspolitisch wichtiger – das Vollmachtenregime des Bundesrates aus dem Zweiten Weltkrieg mit der Annahme der Volksinitiative «Für die Rückkehr zur direkten Demokratie» beendet. Mit der sehr deutlichen Zustimmung von achtzig Prozent zur Einführung der AHV (1947) entstand ein Sozialwerk, auf das sich bis heute «die gesamte Schweiz einigen kann».
Gleichstellung und Ökologie
Ab der zweiten Jahrhunderthälfte fanden mehr als drei Viertel aller Volksabstimmungen statt. David Hesse und Philipp Loser porträtieren darunter zwanzig wichtige Abstimmungsentscheide. Obwohl seit 1977 auch die Ergebnisse der Abstimmungsnachbefragungen (Vox oder VOTO) vorliegen, verzichteten die Autoren auf deren Einbezug. Dies dürfte der Fokussierung auf ihre Fragestellung nach der Wirkung der Abstimmungsentscheide in der Geschichte der Schweiz geschuldet sein.
Wichtige Abstimmungsentscheide im Bereich der Gleichstellung waren ab 1950 die Einführung des Frauenstimmrechts von 1971 («Hundert Jahre Kampf») und das Neue Eherecht von 1985 («Der Abschied vom Paternalismus»), die Einführung der Fristenlösung (2002) sowie – ebenfalls nach mehreren Anläufen – die Einführung einer Mutterschaftsversicherung (2004). Aus dem Bereich der Ökologie bestimmten die beiden Autoren als wichtige Abstimmungsentscheide die Rothenthurm-Initiative zum Schutz der Moore (1987), das Atom-Moratorium (1990) sowie das Gentech-Moratorium (2005).
Von staatspolitischer Bedeutung war die Abstimmung über die Gründung des Kantons Jura von 1978. Damit wurden auch jahrzehntelange schwere Konflikte befriedet (oder zumindest stark entschärft). Zu einer Entzauberung der Armee führte 1989 die Volksinitiative zur Abschaffung der Armee, auch wenn sie mit 64 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt wurde.
Öffnung versus Abschottung
Weitreichende Folgen bis heute hat die Abstimmung über den EWR-Beitritt von 1992, den die SVP und die AUNS, die Aktion für eine unabhängige und neutral Schweiz, zu Fall gebracht haben («Die Schweiz wird zur Insel»). Dieses gewonnene Referendum läutete auch den politischen Aufstieg der von Christoph Blocher klar rechts positionierten SVP ein.
Abstimmungsthemen mit xenophober Stossrichtung wurden immer wieder Volk und Ständen vorgelegt. Am bekanntesten ist die «Überfremdungsinitiative» von James Schwarzenbach von 1970, welche den Anteil der ausländischen Bevölkerung auf zehn Prozent beschränken wollte. 46 Prozent stimmten ihr zu. Es folgten noch weitere sogenannte Überfremdungsinitiativen, sie erhielten aber deutlich geringere Zustimmung. Angenommen von einer Mehrheit von Volk und Ständen wurden die beiden Volksinitiativen der SVP zur «Ausschaffung krimineller Ausländer» (2010) und «gegen Masseneinwanderung» (2014); bei beiden haperte es jedoch bei der Umsetzung. 2002 wurde die überparteilich lancierte Volksinitiative für den Beitritt zur UNO, im zweiten Anlauf, angenommen («Der Beitritt zur Welt»).
Weitere wichtige Abstimmungsentscheide waren für David Hesse und Philipp Loser die Einführung der Schuldenbremse von 2001 («Ein freisinniger Exportschlager»), die Verwahrungsinitiative (2004) oder die Abzocker-Initiative (2013).
Dreissig weitere wichtige Abstimmungsentscheide
Im Bewusstsein darum, dass ihre Auswahl der dreissig wichtigsten Vorlagen nicht abschliessend ist, listen die beiden Autoren im Anschluss an die dreissig Abstimmungsportraits die Titel von dreissig weiteren Volksabstimmungen auf.
Sicher kann man in diesem Zusammenhang einwenden, dass klare Kriterien für die Festlegung der «Wichtigkeit» eines Abstimmungsentscheides fehlten, und man könnte sich über Einzelfälle auslassen. Dies ist auch den Autoren bewusst: Am Schluss des Buches erklären sie, dass sie für ihre Auswahl «keinen Anspruch auf Absolutheit erheben». Ihnen sei es auch darum gegangen, den Zugang zur jüngeren Schweizer Vergangenheit zu erschliessen. Und dies gelingt ihnen, gerade auch dank der Ausführungen in den Abschnitten der Vorgeschichte und der Wirkung der einzelnen Abstimmungsentscheide.
Das Buch von David Hesse und Philipp Loser ist sorgfältig gemacht, mit journalistischer Leichtigkeit geschrieben und mit passenden Abstimmungsplakaten und Abstimmungskarten illustriert. Das Buch lädt zum Blättern und Lesen ein. Es genügt auch wissenschaftlichen Ansprüchen und weist für jede Abstimmungsvorlage die wichtigste Literatur aus.
Gelegentlich ist auch das Herzblut der beiden Autoren für die direkte Demokratie spürbar, vor allem im Schlusswort. Da überbordet ihre Begeisterung für die direkte Demokratie etwas. Bei der Darstellung der einzelnen Abstimmungsentscheide aber – und selbst im besagten Schlusswort – verweisen die Autoren mehrfach auf das Ambivalente und das potentiell Populistische, das Volksabstimmungen innewohnen kann.
Hinweis: Dieser Beitrag wurde am 4. Februar 2025 auf Journal 21 erstpubliziert.
Referenz
David Hesse / Philipp Loser: Heute Abstimmung! 30 Volksentscheide, die die Schweiz verändert haben. Zürich: Limmat Verlag, 2024.