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Was uns Tunesien über democratic backsliding in den USA sagen kann – und was nicht

Jan-Erik Refle
2nd April 2025

Tunesien ist ein kleines nordafrikanisches Land und eines der jüngsten Beispiele für das sogenannte democratic backsliding. Während die Erzählung hier enden könnte, da Vergleiche von Tunesien mit der etablierten Demokratie der Vereinigten Staaten weit entfernt scheinen, zeige ich in diesem Artikel, dass es zwischen beiden Ländern durchaus Parallelen gibt.

Democratic Backsliding bedeutet in beiden Fällen, dass ein gewählter Präsident das politische System von Grund auf verändert. Die dem democratic backsliding in Tunesien zu Grunde liegenden Prozesse könnten gleichermassen auf die USA zutreffen, wo Trump seit Anfang 2025 versucht, die parlamentarischen und gerichtlichen Kontrollen im politischen System zu reduzieren und zu umgehen.

Weltweit mehrere Beispiele für democratic backsliding

 Democratic backsliding hängt häufig mit einem frei gewählten Präsidenten zusammen, der nach erfolgter Wahl seine Macht stetig versucht zu erweitern (Balderacchi & Tomini, 2024), in einigen Fällen auch aufgrund der starken Polarisierung zwischen Regierung und Opposition (Gessler & Wunsch, 2024).

Konkrete Beispiele des democratic backsliding durch gewählte Präsidenten wurden für die Türkei (Gumuscu, 2023), Ungarn (Bogaards, 2018) oder Polen (Wunsch & Blanchard, 2023) erforscht. Die Auswirkungen der ersten Präsidentschaft von Donald Trump auf die amerikanische Demokratie wurden ebenfalls beschrieben (Mickey et al. 2017), allerdings sahen die international erstellten Indizes das Demokratieniveau nach dem Ende seiner ersten Präsidentschaft wieder auf gleichem Level wie zuvor (VDem 2025).

Angesichts der anhaltenden internationalen Welle von democratic backsliding und im Zuge der aktuellen Veränderungen in der amerikanischen Politik mag es diesmal anders sein. Es wird sich erst nach Ende der Amtszeit von Präsident Trump zeigen, wie stabil die etablierten demokratischen Kontrollinstanzen gegenüber backsliding sind.  

Das Gesicht des democratic backsliding in Tunesien

Die offensichtlichste Gemeinsamkeit zwischen Tunesien und den USA ist, dass ein gewählter Präsident versucht, seine Macht maximal auszudehnen. Im Fall der jungen tunesischen Demokratie hatte der 2019 gewählte Präsident Kais Saied immer eine andere Vorstellung dessen, wie Gesetzgebung und politische Entscheidungen funktionieren sollten als das Parlament Tunesiens (Gobe, 2022). Schlüsselelemente für die Machtergreifung, die in der Auflösung des Parlaments 2022 und der darauf folgenden neuen Verfassung gipfelten, waren die Art und Weise, wie Saied im Rahmen von politischen Framing dargestellt wurde. Auch wirtschaftliche Entwicklungen und wachsende Unzufriedenheit mit der Demokratie, teilweise von Saied selbst geschürt, trugen zu diesen Entwicklungen bei.

Democratic backsliding in Tunesien erfolgte zwischen 2022 und 2024. Es umfasste die Kontrolle über die Justiz durch die Entlassung von Richtern, sowie die Auflösung des Parlaments, bevor eine neue Verfassung ausgearbeitet wurde. Der Prozess wurde von einer ambivalenten Haltung Saieds gegenüber der Demokratie und der Berufung auf Verschwörungstheorien begleitet  (Fulco & Giampaolo 2023). Teile der Zivilgesellschaft reagierten zu Beginn nicht, da sie den Kampf gegen Korruption unterstützten oder (einigen) Positionen zustimmten, sowie aufgrund der ambivalenten Positionen des gewählten Präsidenten.

Gemeinsamkeiten mit den USA

Zumindest einige dieser Elemente klingen für den Fall der USA sehr vertraut. Tunesien hatte nur etwa zehn Jahre lang eine demokratische Regierung und zum Zeitpunkt des Rückfalls kein Verfassungsgericht. Die wirtschaftliche Entwicklung stagnierte und der Präsident hatte keine Verbindungen zu politischen Parteien. Die Unsicherheit und Arbeitslosigkeit, die zu democratic backsliding in Tunesien führten, sind für die USA bislang nicht im gleichen Masse relevant. Es könnte jedoch sein, dass Präsident Trump durch die Entlassung von Staatsangestellten grosse Unsicherheit in allen Sektoren schafft, wenn es um Bundesfinanzen, Zölle oder wirtschaftlichen Druck geht. Diese Unsicherheit hat das Potenzial, zusätzliche Frustration zu erzeugen und das Narrativ einer Dringlichkeit der Änderung des politischen Systems zu erzeugen.

Der weitreichende Umbau des Justizsektors könnte bereits begonnen haben, obwohl fraglich ist, ob der Oberste Gerichtshof die gewünschte Erweiterung der präsidialen Befugnisse zulassen wird, wodurch die Rolle der verfassungsgemässen Gewaltenteilung weitestgehend ausgehebelt würde. Dies würde die Arbeit der Richter obsolet machen, ausser zur Rechtfertigung präsidialer Anordnungen.

Dasselbe gilt für den Kongress. Indem Präsident Trump parlamentarische Entscheidungen, insbesondere solche im Zusammenhang mit dem Haushalt, missachtet, tut er effektiv das, was Präsident Saied in Tunesien getan hat: Er regiert per Dekret und stellt das Parlament ins Abseits. Dieser Ansatz wird so lange fortgesetzt, bis die Parlamentsmitglieder ihre politische Arbeit zunehmend als überflüssig wahrnehmen, da das System sich zu einer stärkeren präsidialen Rolle hin verschiebt.

Dieses Problem überschreitet Parteigrenzen und betrifft sowohl Republikaner als auch Demokraten. Es geht grundsätzlich um Fragen der Repräsentation, parlamentarische Aufgaben und die Macht der Parlamentsmitglieder. Es scheint bislang unwahrscheinlich, dass der US-Kongress aufgelöst wird, aber es ist nicht unmöglich, dass Präsident Trump zum Schluss kommt, dass das Parlament seine Arbeit behindert und die Notwendigkeit geltend macht, über mehr Befugnisse zu verfügen.

In Bezug auf Trumps erste Präsidentschaft argumentierten Carothers & Hartnett (2024), dass die US-Demokratie funktionierte, weil democratic backsliding dazu führte, dass er nicht wiedergewählt wurde. Im US-Kontext wird dies bereits während der nächsten Zwischenwahlen sichtbar sein. Wenn sich jedoch bis dahin die Konflikte zwischen Parlament und Präsident verschärfen, könnte es an der Justiz liegen, zu entscheiden, wer im Recht ist. Wenn nun aber diese Justiz nicht unabhängig vom Präsidenten ist, oder mit Anfragen überhäuft, wird es keine finale Entscheidung geben. Zwar sind die USA weit davon entfernt, dass die Verfassung gestürzt wird, aber warum sollte ein gewählter Präsident nicht ein Verfassungsreferendum fordern und seine Anhänger mobilisieren, um das System entsprechend zu ändern, ähnlich wie es Saied in Tunesien getan hat?

Wie stabil und resilient sind die Institutionen der USA?

Der direkte Vergleich der USA mit Tunesien ist schnell zurückgewiesen. Dennoch stellt sich die Frage, ob wir uns auf die angenommene Stabilität und Resilienz der US-Demokratie verlassen können. Nur weil etwas unvorstellbar oder als unwahrscheinlich angesehen wird, bedeutet das nicht, dass es nicht passieren kann. Angesichts der aktuellen Geschwindigkeit der Veränderungen – und der zahlreichen Entscheidungen, die nicht in die Kompetenz des Staatspräsidenten fallen – könnte auch in den USA ein democratic backsliding mit beispielloser Geschwindigkeit erfolgen.

Diese Geschwindigkeit ist zudem ein Zeichen dafür, dass alles gut vorbereitet war. Gewählte Präsidenten, die versuchen die Macht zu monopolisieren, spielen häufig mit Mehrdeutigkeit – indem sie Dinge tun, die unterschiedlich interpretiert werden könnten; Kontrollinstanzen überwältigen oder sagen, das wäre so angekündigt gewesen und Teil des Wahlprogrammes.

Schnelle Aktionen zeigen ausserdem eine Ergebnisorientierung und einen Willen zur Veränderung, der von den eigenen Anhängern geschätzt wird. Allerdings ist die Wahl eines Präsidenten oft weniger konkret als die Unterstützung für verschiedene politische Massnahmen. Für einen gewählten Präsidenten ist es leicht zu sagen: Das, was ich tue, entspricht dem Wählerwillen. Aber sind die Amerikanerinnen und Amerikaner derzeit auch bereit, die getroffenen Entscheide zu akzeptieren? Wie weit geht democratic backsliding für das Versprechen von greatness und Effizienz?

Unsicherheit zu schaffen und Massnahmen mit Dringlichkeit zu ergreifen, um Korruption zu bekämpfen oder sich auf eine Art abstrakten Feind zu beziehen, ist Teil dieses backsliding-Prozesses. Zum abstrakten Feind kann im Laufe der Zeit auch das Parlament oder – wie wir es bereits früher gesehen haben – die Justiz werden. Parlament und Justiz werden als „woke“ bezeichnet – oder welcher Begriff auch immer verwendet wird – um zu signalisieren, dass diese Institutionen gegen die Meinung des Präsidenten arbeiten. Dieser Erzählung folgend, kann somit nur die Eliminierung dieser Kontrollinstanzen dem gewählten Präsidenten überhaupt ermöglichen, den wahren Willen des Volkes zu erfüllen.

Die Realität des demokratischen Rückgangs ist von der Wählerschaft meist unerwünscht

Die Folge des demokratischen Rückgangs ist, dass die Bevölkerung allmählich ihren Einfluss auf das Parlament oder die Politik verliert, die Bürgerrechte eingeschränkt werden und die davon profitierenden Personen der Präsident und die ihn umgebenden Personen sind, die Netzwerke zu ihrem eigenen Vorteil aufbauen.

Temporalität und Geschwindigkeit spielen zugunsten eines gewählten Präsidenten, der die absolute Macht sucht, da die Kontrolle durch Gerichte langsam ist und Zeit braucht, zumindest bis eine endgültige Entscheidung getroffen wird. Demokratisierungsforscher könnten jetzt zu bedenken geben, dass democratic backsliding und die Maximierung der Macht des Präsidenten zu Legitimationsproblemen führen (Lührmann & Lindberg 2019).

Aber ist dies auch der Fall, wenn das gewählte Parlament – im Gegensatz zum schwachen tunesischen Parlament – den Präsidenten unterstützt, wie es beispielsweise in der Türkei der Fall war (Gumuscu, 2023)?  Es gibt immer noch viele mögliche Szenarien und die Temporalität und Reaktionen verschiedener institutioneller Akteure sind entscheidend. Was jedoch in den ersten Wochen der zweiten Präsidentschaft von Donald Trump passiert ist, ist ein direkter Angriff auf das Funktionieren der US-Demokratie, und es ist derzeit eher unwahrscheinlich, dass dies aufhört.

Das unschöne Déjà-vu

Als Demokratisierungsforscher fällt es einem schwer mitanzusehen, wie sich Dinge im Laufe der Zeit wiederholen, da man davon ausgeht, dass Entwicklungen einzelner Länder nicht in gleicher Weise auf andere Länder übertragbar sind; aber scheinbar ist es eben doch so.

Es gibt genügend Regimes, die auf Patronagenetzwerken basieren wie im Nahen Osten und in Nordafrika (de Elvira et al. 2018), und es gibt zu viele Parallelen, um sie zu ignorieren. Einmal etabliert, zeigen sich diese Systeme relativ robust gegen eine Re-Demokratisierung. Wenn man an den Aufbau von Patronagenetzwerken denkt, kommen einem die Kontrolle und Umverteilung von Schlüsselressourcen sowie der Fokus auf Loyalität oder der Bezug auf Familienmitgliedern und Bekanntne in den Sinn. Weiter gehört es dazu, Kritik abzuschmettern und unabhängige Kontrollinstanzen unter Druck zu setzen, einschliesslich dem Ausüben von finanziellem Druck.

Neuere Forschungen unterstreichen, dass democratic backsliding nicht unbedingt ein Versagen der Demokratie bei der Erzielung gewünschter Ergebnisse ist, sondern vor allem ein Versagen, Einzelpersonen von Taktiken abzuhalten, die zur Maximierung der Macht und zu democratic backsliding führen (Carothers & Hartnett, 2024).

In diesem Sinne scheint es überraschend, dass in den USA noch keine grossen Proteste sichtbar sind. Die Frage ist jedoch, wogegen genau protestiert werden soll, angesichts des Umfangs, der Schnelligkeit, aber auch der Dauerhaftigkeit der Veränderungen. Und selbst wenn autokratische Herrschaft nicht das endgültige Ziel sein mag, werden demokratische Kontrollinstanzen und Prozesse, die ein backsliding verhindern sollen, zumindest beschädigt und könnten zukünftige Autokraten begünstigen.

Nun wird man sagen, dass die USA im Vergleich mit Tunesien sehr verschieden sind. Dies trifft aber vor allem dann zu, wenn die demokratischen Kontrollmechanismen korrekt funktionieren, also Parlament, Zivilgesellschaft, Justiz, Föderalismus und die Medien. Und vielleicht ist es sogar noch besorgniserregender für die Demokratie, dass schnell ergriffene Massnahmen eines gewählten Präsidenten tatsächlich schnelle Reaktionen anderer Institutionen in den am besten etablierten Demokratien verhindern können.


Referenzen

  • Balderacchi, Claudio, and Luca Tomini. “Alternative patterns to electoral autocracy: recognizing diversity in contemporary autocratization processes.” Democratization (2024): 1-22.
  • Bogaards, Matthijs. “De-democratization in Hungary: diffusely defective democracy.” Democratization 25.8 (2018): 1481-1499.
  • Carothers, T., & Hartnett, B. (2024). Misunderstanding democratic backsliding. Journal of Democracy, 35(3), 24-37.
  • de Elvira, R., Laura, C. S., & Weipert-Fenner, I. (2018). Clientelism and Patronage in the Middle East and North Africa. Networks of Dependency.
  • Fulco, C., & Giampaolo, M. (2023). The Neoliberal Cage: Alternative Analysis of the Rise of Populist Tunisia. Middle East Critique, 32(1), 27-52.
  • Gobe, E. (2022). La Tunisie en 2021: Un coup politique peut masquer un coup d’État. L’Année du Maghreb, 28, 225-260.
  • Gumuscu, S. (2023). Democracy or authoritarianism: Islamist governments in Turkey, Egypt, and Tunisia. Cambridge University Press.
  • Lührmann, A., & Lindberg, S. I. (2019). A third wave of autocratization is here: what is new about it?. Democratization,26(7), 1095-1113.
  • Mickey, R., Levitisky, S., & Way, L. A. (2017). Is America still safe for democracy: Why the United States is in danger of backsliding. Foreign Aff., 96, 20.
  • VDem (2025). https://v-dem.net/data_analysis/CountryGraph/
  • Wunsch, N., & Blanchard, P. (2023). Patterns of democratic backsliding in third-wave democracies: a sequence analysis perspective. Democratization, 30(2), 278-301.

 

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