Q&A zum Ständerat: Antwort auf Onlinekommentare

Unter dem Strich ist der Stän­de­rat mäch­ti­ger als der Natio­nal­rat. So beti­tel­te der Tages-Anzei­ger am 25.9.20 einen Arti­kel. Die­ser fass­te gekonnt zusam­men, was Rahel Frei­burg­haus, Ser­ei­na Dick und ich zum Stän­de­rat erforscht hat­ten. Inner­halb einer Woche gene­rier­te der Arti­kel gut 50 Kom­men­ta­re. Hier ant­wor­te ich auf eini­ge davon und ord­ne sie ein.

Ständeratsbuch

We love Ständerat

Eine Grup­pe von Kom­men­ta­to­rIn­nen ist vom Stän­de­rat schlicht­weg begeistert

«Per­sön­lich neh­me ich den Stän­de­rat als sehr viel pro­fes­sio­nel­ler und seriö­ser wahr als den Kin­der­gar­ten im Natio­nal­rat. Schon allei­ne des­we­gen begrüs­se ich es, wenn die­se Kam­mer eher dominiert.»

 

«Zum Glück gibt es den Stän­de­rat. Hier wird meis­tens noch sach­lich debat­tiert und poli­tisch seri­ös gear­bei­tet, auch wenn mir nicht immer alle Ent­schei­de gefal­len. Im NR sind mir zu vie­le Selbst­dar­stel­ler und mit­tel­mäs­si­ge Poli­ti­ke­rin­nen und Politiker.»
 
Auf­fal­lend oft wird, wie hier, der direk­te Ver­gleich zum Natio­nal­rat gezo­gen. Die gros­se Kam­mer ist in der Tat nicht nur grös­ser, son­dern auch poli­tisch frag­men­tier­ter und sozio-kul­tu­rell diver­ser, wie Vat­ter (2020) auf­zeigt. Abbil­dung 1 illus­triert dies anhand eines Ver­glei­ches zwi­schen Bevöl­ke­rung und Par­la­ment in Sachen Geschlecht, Alter, Beruf, Reli­gi­on, Spra­che und räum­li­cher Rahmen.
 

Abbildung 1: Soziokulturelle Merkmale von Bevölkerung und Schweizer Parlament

Anmer­kun­gen: Eige­ne Gra­fik mit Daten von Vat­ter (2020, 256f.). Pro­fi-Poli­ti­ke­rIn­nen gemäss Obe­lis, Anga­ben zur Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit der Rats­mit­glie­der von 2017 (NZZ 2017). Als Städ­te gel­ten die 25 Gemein­den mit mehr als 30’000 Ein­woh­ne­rIn­nen per Ende 2017, gros­se Kan­to­ne > 500’000 und klei­ne < 100’000 Ein­woh­ne­rIn­nen (BFS 2020).


In bei­den Kam­mern sind 40- bis 64-jäh­ri­ge Füh­rungs­kräf­te und Aka­de­mi­ker deut­lich über­ver­tre­ten. Im Stän­de­rat gibt es zusätz­lich eine kla­re Domi­nanz der Katho­li­ken sowie der mit­tel­gros­sen Kan­to­ne. Weder der Natio­nal- noch der Stän­de­rat sind beson­ders städ­tisch – die Bevöl­ke­rung ist es aller­dings auch nicht. Die drei gröss­ten Lan­des­spra­chen sind eben­falls mehr oder weni­ger adäquat reprä­sen­tiert. Fol­gen­der Kom­men­tar kann des­we­gen nur iro­nisch gemeint sein:

«Gott sei Dank ist der Stän­de­rat stär­ker. Unse­re heh­ren, tra­di­tio­nel­len, kon­ser­va­ti­ven, und rech­ten klei­nen Kan­to­ne kön­nen damit den Flau­sen der lin­ken Städ­te entgegentreten!»

 

Viel eher trifft dage­gen Fol­gen­des zu:

«Also hat es der Natio­nal­rat sel­ber in der Hand, geei­nigt in Ver­hand­lun­gen zu gehen. Extrem-Posi­tio­nen fal­len, aus mei­ner Sicht, zu Recht, durch. All zu viel schei­tert an unhei­li­gen Allianzen.»

 

Die hier genann­ten «unhei­li­gen Alli­an­zen» bezie­hen sich auf das iden­ti­sche Stimm­ver­hal­ten der Pol­par­tei­en SP (und Grü­nen) auf der lin­ken und SVP (und Lega und MCG) auf der rech­ten Sei­te in Oppo­si­ti­on zur poli­ti­schen Mit­te. Laut smart­mo­ni­tor kom­men sol­che SP-SVP-Koali­tio­nen zwar durch­aus vor, aller­dings schwankt ihr Anteil seit 1996 zwi­schen 0.5 und 3% aller Koali­tio­nen. Tat­säch­lich match­ent­schei­dend sind sie sowie­so nur im Natio­nal­rat. Im Stän­de­rat dage­gen besit­zen FDP und CVP bzw. Mit­te-Frak­ti­on zusam­men eine abso­lu­te Mehr­heit – und zwar seit es den Stän­de­rat gibt (BFS 2020).

Über Parteien und deren Vertretung

Eine zwei­te Grup­pe von Kom­men­ta­ren zielt denn auch genau dar­auf ab:

«Der Stän­de­rat dient nur noch dazu, CVP und FDP künst­lich am Leben zu erhalten.»

 

«Lus­tig die Empö­rung des Hans-Peter Port­mann: Gäbe es den Stän­de­rat nicht, wäre sei­ne FDP noch bedeutungsloser.»

 

Inter­es­san­ter­wei­se wird die FDP hef­ti­ger an den Pran­ger gestellt als die CVP, obwohl die­se im Stän­de­rat stär­ker über­re­prä­sen­tiert ist. Abbil­dung 2 bezif­fert die Über­ver­tre­tung der CVP im Stän­de­rat auf 17 Pro­zent, jene der FDP «nur» auf 11 Pro­zent (Dif­fe­renz zwi­schen Stimm­an­teil bei den Wah­len und Sitz­an­teil). An die­ser Abbil­dung fällt auch die star­ke Unter­ver­tre­tung der SVP sowohl im Stän­de­rat wie auch auf kan­to­na­ler Ebe­ne und spe­zi­ell in deren Exe­ku­ti­ven auf. FDP und CVP dage­gen sind nicht nur im Stöck­li, son­dern auch in den Kan­tons­re­gie­run­gen am stärks­ten ver­tre­ten. Folg­lich hat deren Über­ver­tre­tung in der klei­nen Kam­mer durch­aus eine gewis­se Berech­ti­gung, da dem Stän­de­rat ja eigent­lich (auch) die Ver­tre­tung kan­to­na­ler Anlie­gen obliegt.


Abbildung 2: Parteianteile in Bevölkerung sowie Bundes- und kantonalen Institutionen

Anmer­kun­gen: Eige­ne Gra­fik mit Daten des BFS. Bevöl­ke­rung = Wäh­ler­an­tei­le per Okto­ber 2019, alles ande­re Sitz­an­tei­le per Sep­tem­ber 2020. FDP inkl. LP BS, CVP incl. CSP FR, VS +JU.


Kritik am Ständerat

Hier­mit kom­men wir nun zum eigent­li­chen Kern des par­la­men­ta­ri­schen Pudels – zur Kri­tik am Stän­de­rat als Insti­tu­ti­on. Die­se ist durch­aus para­dox: zu wenig demo­kra­tisch, weil föde­ral bestückt, sagen die einen; nicht föde­ral genug, weil demo­kra­tisch gewählt, sagen die ande­ren. Fol­gen­de zwei Kom­men­ta­re brin­gen dies sehr schön zum Ausdruck:

«Das Haupt­pro­blem beim Stän­de­rat ist das offen­sicht­li­che Demo­kra­tie­de­fi­zit, das wächst und wächst. Auch im Stän­de­rat müss­te die Grös­se des Kan­tons eine gewis­se Bedeu­tung haben. Es wäre sinn­voll wenn z.B. Zürich vier Stän­de­rä­te hät­te und Gla­rus nur einen. Alter­na­tiv die Schweiz zu sie­ben Kan­to­nen zusam­men­le­gen, was aber noch unrea­lis­ti­scher ist.»

 

«[K]leines Gedan­ken­spiel: wenn der Stän­de­rat nicht “das Volk” son­dern “die Kan­to­ne” ver­tre­ten soll, wäre es doch ange­brach­ter, wenn der Stän­de­rat nicht “vom Volk” son­dern “vom Kan­ton”, also z.B. dem Kan­tons­par­la­ment gewählt würde…»

 

Das Dilem­ma ist real und lässt sich nie ganz auf­lö­sen, da föde­ra­le Demo­kra­tien genau die­se Qua­dra­tur des Krei­ses bezwe­cken: zum einen staat­li­che Ein­heit sowie ter­ri­to­ria­le Viel­falt bewah­ren und pfle­gen, zum ande­ren Iden­ti­tät und Soli­da­ri­tät erhal­ten und fes­ti­gen. Indem jedem (vol­len) Kan­ton zwei Sit­ze zuste­hen, wird ter­ri­to­ria­le Gleich­heit her­ge­stellt. Dass aber alle Stän­de­rä­tIn­nen mitt­ler­wei­le durch Volks­wahl bestimmt wer­den, ent­spricht demo­kra­ti­schen Gepflo­gen­hei­ten. Sowie­so kann der Gegen­satz von Demo­kra­tie und Föde­ra­lis­mus nie ganz auf­ge­ho­ben, son­dern nur durch mög­lichst effi­zi­en­te, und doch legi­ti­me Mecha­nis­men ver­bun­den wer­den (Benz 2020). In der Schweiz tun dies nicht nur der Stän­de­rat und der Dia­log zwi­schen bei­den Kam­mern. Auch das Ver­nehm­las­sungs­ver­fah­ren und die direk­te Demo­kra­tie tra­gen dazu bei. Sie alle fes­ti­gen die deli­be­ra­ti­ve poli­ti­sche Kul­tur des Lan­des und ver­hin­dern, dass eine blos­se Min­der­heit domi­nie­ren kann. Dies wäre weder demo­kra­tisch noch föderal.

Metakritik oder: so what?

Eine letz­te Grup­pe von Kom­men­ta­ren schliess­lich fragt nach dem Sinn der gan­zen Übung:

«54 zu 46 Pro­zent! Was für ein kras­ses Miss­ver­hält­nis! Wir brau­chen rasch­mög­lichst eine Ver­fas­sungs­än­de­rung! […] Dan­ke für die Stu­die, Dan­ke für den Arti­kel im Tagi. Die Schweiz scheint kei­ne all­zu gros­sen Pro­ble­me zu haben…»

 

«Der Unter­schied ist gering und die Begrün­dung logisch und in 2 Sät­zen oben erklärt. Hof­fe die Stu­die wur­de nicht vom Steu­er­zah­ler bezahlt. Für was braucht es schon wie­der Politologen?»

 

Unse­re Stu­die wur­de in der Tat von Steu­er­zah­le­rIn­nen finan­ziert – aller­dings nur indi­rekt und teil­wei­se, via uni­ver­si­tä­re For­schungs­gel­der und die Nach­wuchs­för­de­rung des SNF. Die für das Buch­ka­pi­tel aktua­li­sier­te Daten­bank zum Dif­fe­renz­be­rei­ni­gungs­ver­fah­ren schliesst dage­gen an die gute alte Tra­di­ti­on des Miliz­sys­tems an, sprich: Sie geschah in frei­wil­li­ger Zusatzarbeit.

Zu den eru­ier­ten Unter­schie­den: der Stän­de­rat ist in 51 Pro­zent der Fäl­le Erstrat, der Natio­nal­rat folgt bei 54 Pro­zent aller betrach­te­ten Bun­des­rats­ge­schäf­te der klei­nen Kam­mer, und 48 Pro­zent aller Eini­gungs­an­trä­ge ent­spre­chen der Mei­nung des Stän­de­ra­tes (Natio­nal­rat: 31 Pro­zent; 21 Pro­zent Kom­pro­mis­se; cf. Muel­ler et al. 2020). Wahr­schein­lich wür­de auch eine Ver­fas­sungs­än­de­rung nichts dar­an ändern, zumal ihr bei­de Kam­mern oder zumin­dest Volk und Stän­de zustim­men müss­ten. Sowie­so will die empi­risch-ana­ly­ti­sche Poli­tik­wis­sen­schaft kei­ne Soll­zu­stän­de for­mu­lie­ren, son­dern nach Erklä­run­gen und kau­sa­len Zusam­men­hän­gen für Bestehen­des suchen. Wenn sich das in zwei Sät­zen sagen lässt: umso besser.


Refe­renz

Muel­ler, Sean, Ser­ei­na Dick und Rahel Frei­burg­haus (2020). Stän­de­rat, stär­ke­rer Rat? Die Gesetz­ge­bungs­macht der Zwei­ten Kam­mer im Ver­gleich zu Natio­nal- und Bun­des­rat, in: Muel­ler, Sean und Adri­an Vat­ter (Hrsg.): Der Stän­de­rat. Die Zwei­te Kam­mer der Schweiz. Zürich: NZZ Libro, Rei­he „Poli­tik und Gesell­schaft in der Schweiz“.
 

Lite­ra­tur

  • Benz Arthur (2020): Föde­ra­le Demo­kra­tie. Regie­ren im Span­nungs­feld von Inter­de­pen­denz und Auto­no­mie. Baden-Baden: Nomos.
  • Vat­ter, Adri­an (2020). Reform­an­sät­ze unter der Lupe: Model­le für die Reform des Stän­de­rats. In: Muel­ler, Sean und Adri­an Vat­ter (Hrsg.): Der Stän­de­rat. Die Zwei­te Kam­mer der Schweiz, 253–294. Zürich: NZZ Libro, Rei­he „Poli­tik und Gesell­schaft in der Schweiz“.

 

Bild: Par­la­ments­diens­te 3003 Bern

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