Woher der Sinneswandel in der ungarischen Flüchtlingshilfe?

Die erzwun­ge­ne Ver­trei­bung von Geflüch­te­ten aus der angren­zen­den Ukrai­ne nach Ungarn scheint die jahr­zehn­te­lan­ge Bemü­hung der regie­ren­den Fidesz-Par­tei, eine “Fes­tung Ungarn” zu errich­ten, zunich­te gemacht zu haben. Wie ist die aktu­el­le Kehrt­wen­de bei der Auf­nah­me von Flücht­lin­gen zu ver­ste­hen? Auf­grund des star­ken Eth­no­po­pu­lis­mus der Regie­rung und ihres Nar­ra­ti­ves der eth­ni­schen Inklu­si­vi­tät war Ungarn ver­pflich­tet, alle Ungarn-Ukrai­ner im Land auf­zu­neh­men. Da die unga­ri­sche Regie­rung nicht in der Lage war, über­zeu­gend zwi­schen Dop­pel­bür­gern — Ungarn-Ukrai­nern — und Per­so­nen mit aus­schließ­lich ukrai­ni­scher Staats­bür­ger­schaft zu unter­schei­den, ent­stand eine Patt-Situa­ti­on, in der ihre vor­ma­lig ableh­nen­de Hal­tung in Asyl­fra­gen schein­bar implodiert. 

Die Repu­blik Ungarn, die­ser EU-Mit­glied­staat an der süd­öst­li­chen Gren­ze des Schen­gen-Raums, ist in den letz­ten zehn Jah­ren für sei­ne rigo­ro­se Asyl­po­li­tik bekannt gewor­den. Nach zwei Jahr­zehn­ten der Inter­na­tio­na­li­sie­rung und Euro­päi­sie­rung im Bereich der Asyl- und Migra­ti­ons­po­li­tik (in den 1990er und 2000er Jah­ren) stell­te Ungarn 2014 eine eige­ne Migra­ti­ons­stra­te­gie vor. Die­ses Doku­ment (Euro­päi­sche Kom­mis­si­on 2014) sah einen aus­ge­wo­ge­nen Ansatz vor, der auf die mög­li­chen Vor­tei­le der Ein­wan­de­rung hin­wies, aber auch deren Her­aus­for­de­run­gen anerkannte.

Doch noch bevor die­ses Doku­ment umge­setzt wer­den konn­te, führ­te die Kri­se der euro­päi­schen Migra­ti­ons- und Asyl­po­li­tik der Jah­re 2014 bis 2015 (Schul­ze Wes­sel 2017), die als “Flücht­lings­kri­se” bekannt ist, zu einer voll­stän­dig ande­ren Her­an­ge­hens­wei­se der Regie­rung an allen Migra­ti­ons­be­lan­gen. Die Befol­gung euro­päi­scher und inter­na­tio­na­ler Nor­men und Regeln bei der Auf­nah­me von Asyl­be­wer­bern und der Steue­rung der Migra­ti­on wur­de aus­ge­setzt. Was folg­te, war eine Rei­he von Maß­nah­men, die den neu­en unga­ri­schen Ansatz des Gate­kee­ping, der Ver­nach­läs­si­gung und der Miss­ach­tung kennzeichnen.

Vom Fort­schritt zur Ver­wei­ge­rung zu offe­nen Grenzen 

Infol­ge­des­sen gehört Ungarn heu­te zu den ent­schie­dens­ten Geg­nern einer huma­nen Auf­nah­me von Asyl­be­wer­bern. Es ist auch einer der laut­stärks­ten Befür­wor­ter geschlos­se­ner Gren­zen inner­halb der EU und hat im Herbst 2015 fast im Allein­gang die “Bal­kan­rou­te” geschlos­sen. Seit­dem hat die unga­ri­sche Regie­rung, die von der Fidesz-Par­tei geführt wird, die Bestim­mun­gen für den Schutz von Geflüch­te­ten immer wei­ter abge­baut. Bis zum März 2020 hat­te die Regie­rung ein Sys­tem instal­liert, mit dem es nicht mehr mög­lich war, an der unga­ri­schen Gren­ze oder inner­halb des Lan­des über­haupt Asyl zu bean­tra­gen.  Statt­des­sen wur­de ein ein­zig­ar­ti­ges Bot­schafts­sys­tem ein­ge­führt, bei dem ent­we­der Bel­grad (Ser­bi­en) oder Kiew (Ukrai­ne) die ein­zi­gen bei­den Ein­rei­se­stel­len bil­den. Seit­dem durf­ten ins­ge­samt 12 Per­so­nen nach Ungarn ein­rei­sen und dort einen Asyl­an­trag stellen.

Die extre­me Hal­tung Ungarns kommt einer Ver­bar­ri­ka­die­rung gegen­über Asyl­be­wer­bern gleich, die in sein Hoheits­ge­biet ein­drin­gen wol­len, und bedeu­tet, dass die Maß­nah­men des Lan­des gegen das EU-Asyl­recht ver­sto­ßen. Unter die­sen Umstän­den schien es undenk­bar, dass die unga­ri­sche Regie­rung ihren Stand­punkt zum Asyl­recht über­den­ken und die Öff­nung der Gren­zen zulas­sen oder sogar umfang­rei­che Mit­tel und ande­re Res­sour­cen bereit­stellt wür­de, um die Ver­trie­be­nen aus der Ukrai­ne ange­mes­sen unter­zu­brin­gen. Genau dies geschah jedoch in den Tagen nach dem Ein­marsch der rus­si­schen Streit­kräf­te in die Ukraine.

Eth­ni­sche Exklusivität

Der Akt der Abschot­tung nach außen beruht auf einem außer­ge­wöhn­lich star­ken natio­na­len Nar­ra­tiv eth­ni­scher Exklu­si­vi­tät. Die­ses Nar­ra­tiv ist his­to­risch in den Ereig­nis­sen nach dem Ers­ten Welt­krieg ver­wur­zelt, als das dama­li­ge “Großun­garn” mit dem von den Sie­ger­mäch­ten auf­er­leg­ten Frie­dens­ab­kom­men von Tria­non zwei Drit­tel sei­nes Ter­ri­to­ri­ums und einen gro­ßen Teil sei­ner Bevöl­ke­rung verlor.

Die­ser unga­ri­sche “Ver­lust” wur­de von der Fidesz-geführ­ten Regie­rung genutzt, um neu zu defi­nie­ren, wer zur unga­ri­schen Nati­on gehört und wer nicht. For­mal ist die­se “Zuge­hö­rig­keit” im Staats­bür­ger­schafts­ge­setz kodi­fi­ziert, das sich von allen EU-Mit­glied­staa­ten am stärks­ten auf das “ius san­gui­nis” stützt — das heißt, die Staats­bür­ger­schaft wird durch die Natio­na­li­tät oder eth­ni­sche Zuge­hö­rig­keit eines oder bei­der Eltern­tei­le, Groß­el­tern oder sogar spä­te­rer Genera­tio­nen erwor­ben. In der Pra­xis wer­den star­ke Bezie­hun­gen zu allen eth­ni­schen Ungarn in der gesam­ten Regi­on geschaf­fen, ins­be­son­de­re durch mas­siv finan­zier­te kul­tu­rel­le Akti­vi­tä­ten. Zu die­sen Regio­nen gehö­ren Gebie­te im Süden und Süd­wes­ten Ungarns, aber auch im Osten der Ukrai­ne (dem heu­ti­gen Transkarpatien).

Die Bedeu­tung der unga­ri­schen Dia­spo­ra in der Region

Das Nar­ra­tiv des “Unga­risch-Seins” stützt sich auf Blut­li­nie und bio­lo­gi­sche Abstam­mung sowie auf die Kennt­nis der unga­ri­schen Spra­che — zuge­ge­be­ner­ma­ßen eine der am schwie­rigs­ten zu beherr­schen­den Spra­chen für Nicht-Ein­hei­mi­sche — als ent­schei­den­den Fak­tor in der Unter­schei­dung von Zuge­hö­rig­keit und Nicht-Zuge­hö­rig­keit. Es dient als Grund­la­ge für den star­ken Eth­no­po­pu­lis­mus, den die Regie­rungs­par­tei Fidesz seit ihrer erneu­ten Macht­über­nah­me im Jahr 2010 propagiert.

Sie dien­te auch als Recht­fer­ti­gung für Ände­run­gen des Staats­bür­ger­schafts- und Wahl­rechts, die dazu führ­ten, dass Hun­dert­tau­sen­de von Men­schen unga­ri­scher Abstam­mung, die außer­halb des aktu­el­len Staats­ge­biets leben, Zugang zum unga­ri­schen Pass erhiel­ten, oft in Form einer zwei­ten Staats­bür­ger­schaft. Dank die­ser groß­zü­gi­gen Ein­glie­de­rung und der loya­len Unter­stüt­zung durch die­se “Ungarn-jen­seits-der-Gren­ze” hat der Fidesz bei jeder Par­la­ments­wahl seit­her (d. h. 2014, 2018, 2022) die abso­lu­te Mehr­heit errun­gen. Allein in der Ukrai­ne hat die unga­ri­sche Regie­rung rund 130.000 Zweit­päs­se ausgestellt.

Doch kei­ne Kehrtwende? 

Als der Krieg in der Ukrai­ne begann, sah es so aus, als ob Ungarn sei­ne frü­he­re Wei­ge­rung, Asylbewerber:innen in sein Hoheits­ge­biet zu las­sen, auf­ge­ge­ben und sei­ne Gren­zen für deren unge­hin­der­te Ein­rei­se geöff­net hät­te. Bei nähe­rer Betrach­tung der tat­säch­li­chen Situa­ti­on zeigt sich, dass vie­le der­je­ni­gen, die zuerst in Ungarn anka­men, nicht ein­fach Ukrai­ner waren, son­dern Ukrai­ner aus dem ehe­ma­li­gen unga­ri­schen Gebiet Trans­kar­pa­ti­en, die mög­li­cher­wei­se unga­ri­sche Vor­fah­ren hat­ten und mög­li­cher­wei­se auch einen zwei­ten unga­ri­schen Pass besa­ßen. Daher konn­te ihnen die Ein­rei­se nicht legal ver­wei­gert wer­den, und dank des pro­pa­gier­ten Nar­ra­ti­ves der Zusam­men­ge­hö­rig­keit wur­den sie statt­des­sen mit offe­nen Armen empfangen.

Was also wie eine voll­stän­di­ge Kehrt­wen­de in der Asyl­po­li­tik aus­sah, muss in Wirk­lich­keit als Fort­set­zung eines bekann­ten Weges von eth­ni­schem Natio­na­lis­mus betrach­tet wer­den. Dies erklärt, war­um sich die Behand­lung der durch den Krieg in der Ukrai­ne Ver­trie­be­nen so stark von der Behand­lung ande­rer Grup­pen von Asylbewerber:innen unterscheidet.

Die dop­pel­ge­sich­ti­ge unga­ri­sche Reak­ti­on auf Flüchtlinge 

Aus west­li­cher, euro­päi­scher Sicht mag die Bereit­stel­lung von Unter­künf­ten, Hilfs­gü­tern und ande­ren For­men der Unter­stüt­zung für die durch den Krieg in der Ukrai­ne Ver­trie­be­nen den Anschein erwe­cken, als wür­de sich Ungarn end­lich an die EU-Regeln und ‑Vor­schrif­ten hal­ten und sei­ner Ver­pflich­tung zur Gewäh­rung von Asyl nach­kom­men. Aus inter­ner Sicht ist dies jedoch nicht der Fall.

Ähn­lich ver­hält es sich mit den unga­ri­schen Hilfs­trans­por­ten in die Grenz­re­gi­on Trans­ka­par­tien — aus west­eu­ro­päi­scher Sicht gehen sie in die Ukrai­ne. Aus unga­ri­scher Sicht ist die Hil­fe jedoch auf das Gebiet beschränkt, das his­to­risch mit Ungarn ver­bun­den ist und von unga­ri­schen Bürger:innen bewohnt wird. Was wie eine Ges­te der Soli­da­ri­tät aus­sieht, ist in Wirk­lich­keit kei­ne. Was wie eine Ände­rung der Auf­nah­me­po­li­tik für Flücht­lin­ge aus­sieht, ist tat­säch­lich ein Aus­druck eth­ni­scher Exklu­si­vi­tät der Fidesz-regier­ten Regierung.

Ein tra­gi­sches Ende

In der Tat hat der rus­si­sche Krieg gegen die Ukrai­ne die Will­kür der Flücht­lings­auf­nah­me in Ungarn ver­deut­licht. Die Unter­stüt­zung, die jetzt fließt, wur­de weder der vor­he­ri­gen Grup­pe von Asylbewerber:innen, näm­lich den durch den Bür­ger­krieg in Syri­en Ver­trie­be­nen, noch den­je­ni­gen gewährt, die bereits im Land sind und teils unter erbärm­li­chen Bedin­gun­gen leben, z. B. Tei­le der unga­ri­schen Roma-Bevöl­ke­rung. Die­ser Ansatz ver­weist auf eine Hier­ar­chie der Bedürf­tig­keit und ver­deut­licht die bereits von ande­ren Wissenschaftler:innen beschrie­be­ne Dis­kri­mi­nie­rung inner­halb der Flücht­lings­be­völ­ke­rung (Dahin­den 2022).

Auch wenn dies nicht das Ende des unga­ri­schen Eth­no­po­pu­lis­mus, des unga­ri­schen Nati­vis­mus und der Ära der “Fes­tung Ungarn” bedeu­tet, schei­nen die mehr oder min­der ver­deck­te Unter­stüt­zung Putins und die Ver­su­che, wei­te­re Sank­tio­nen gegen Russ­land zu ver­hin­dern, zur Implo­si­on der Visegrád-Grup­pe, d. h. der Vie­rer­grup­pe bestehend aus Ungarn, der Tsche­chi­schen Repu­blik, der Slo­wa­kei und Polen, geführt zu haben. Die­se Län­der hat­ten sich zuvor vie­le Jah­re erfolg­reich gegen pro­gres­si­ve Ent­wick­lun­gen in der Asyl- und Migra­ti­ons­po­li­tik in Euro­pa zusam­men­ge­schlos­sen. Iro­ni­scher­wei­se besie­gelt nun aus­ge­rech­net das The­ma Flücht­lings­auf­nah­me und Asyl, bei dem sie sich frü­her einig waren, das Ende ihrer Einheit.

Autorin­nen­hin­weis

Jen­na Alt­hoff ist asso­zi­ier­te For­sche­rin am nccr — on the move, wo sie zu Anspruchs­er­he­bun­gen in Kri­sen­zei­ten in post­so­wje­ti­schen Wohl­fahrts­staa­ten forscht.

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Refe­ren­zen:

– Alt­hoff, Jen­na (2022): Län­der­be­richt Ungarn, MIDEM Län­der­be­rich­te, Tech­ni­sche Uni­ver­si­tät Dres­den, Dres­den.
– Dahin­den, Jani­ne (2022): A Call for Soli­da­ri­ty with All Refu­gees, Bey­ond Dou­ble Stan­dards!, nccr on the move, blog seri­es “Euro­pe on the Brink”, Uni­ver­si­té Neu­châ­tel, Neu­châ­tel.
– Euro­pean Com­mis­si­on (2014): Hungary’s Migra­ti­on Stra­te­gy, (last acces­sed: 16.05.2022).
– Schul­ze Wes­sel, Julia (2017): Kri­se! Wel­che Kri­se?; in: Wal­ter, Franz (Hg.): Euro­pa ohne Iden­ti­tät? Van­den­hoeck & Ruprecht, Göt­tin­gen, S. 62–66.

Foto­quel­le: Commons.wikimedia.org

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