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Frau Gerber, stimmen Frauen und Männer per se anders ab?

Die Abstim­mungs­vor­la­gen im Jahr 2024 erhal­ten sehr viel Auf­merk­sam­keit. Wir befra­gen daher im Rah­men unse­rer Serie For­sche­rin­nen und For­scher, die sich inten­siv mit den Schwei­zer Abstim­mun­gen befasst haben. Mar­lè­ne Ger­ber macht den Anfang und erklärt, ob es ganz gene­rell einen Unter­schied zwi­schen Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­gern gibt.

Unter­schei­det sich die Stimm­bür­ge­rin grund­sätz­lich vom Stimmbürger?

Mar­lè­ne Ger­ber: Kom­plett ver­schie­den sind Stimm­bür­ge­rin und Stimm­bür­ger natür­lich nicht. Wich­ti­ger als die Geschlechts­zu­ge­hö­rig­keit sind für den Abstim­mungs­ent­scheid in jedem Fall die Wert­hal­tun­gen und die vor­han­de­nen poli­ti­schen Grund­über­zeu­gun­gen. Frau­en und Män­ner leben aber nach wie vor häu­fig in unter­schied­li­chen Lebens­rea­li­tä­ten und machen da auch ande­re Erfah­run­gen, was sich auf ihre Abstim­mungs­ent­schei­de aus­wir­ken kann.

Was für ande­re Erfah­run­gen mei­nen Sie?

Frau­en sind bei­spiels­wei­se häu­fi­ger in sozio­kul­tu­rel­len Beru­fen tätig als Män­ner, sie sind häu­fi­ger Leh­re­rin, Klein­kind­be­treue­rin, Pfle­ge­fach­frau oder Sozi­al­ar­bei­te­rin. Dadurch erhal­ten sie einen ande­ren Blick auf die Welt als bei­spiel­wei­se Män­ner, die häu­fi­ger in tech­ni­schen Beru­fen arbei­ten und auch ganz all­ge­mein öfter in der Füh­rungs­eta­ge anzu­tref­fen sind. Män­ner machen auch im Rah­men ihres Mili­tär- oder Zivil­diens­tes Erfah­run­gen, die Frau­en nicht machen. Dar­über hin­aus sind Frau­en auch nach wie vor stär­ker in die Kin­der­be­treu­ung und in die Haus­halts­tä­tig­kei­ten ein­ge­bun­den. Dies alles führt dazu, dass die Geschlech­ter je ande­re Poli­tik­be­rei­che als wich­ti­ger betrach­ten können.

War das immer schon so oder zei­gen sich Ver­än­de­run­gen über die Zeit?

Die Rol­le der Frau in der Gesell­schaft befin­det sich seit eini­gen Jahr­zehn­ten im Wan­del. Ihre Arbeits­markt­be­tei­li­gung nahm zu, Frau­en sind im Durch­schnitt viel bes­ser aus­ge­bil­det als frü­her, sie sind in der Poli­tik prä­sen­ter, es gibt auch immer mehr Frau­en in Kader­po­si­tio­nen, etc.. Dies wie­der­um zeigt auch Pro­ble­me auf, die man frü­her nicht in dem Aus­mass kann­te, bei­spiels­wei­se in Sachen Ver­ein­bar­keit von Beruf und Fami­lie oder bei der beruf­li­chen Vorsorge.

Hat sich denn der gesam­te Stimm­kör­per über die Zeit verändert?

Wenn wir die Stimm­be­tei­li­gung anschau­en, so kön­nen wir fest­hal­ten, dass die­se über die Zeit im Durch­schnitt rela­tiv kon­stant ist. Die Stimm­be­tei­li­gung fällt aber in direk­ter Abhän­gig­keit der Vor­la­ge höher oder tie­fer aus. Was wir eben­falls wis­sen, ist, dass die Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger sehr selek­tiv an Abstim­mun­gen teil­neh­men. Es ist nicht immer die glei­che Hälf­te, die an die Urne geht, wenn die Stimm­be­tei­li­gung bei 50 Pro­zent liegt! Je nach Abstim­mungs­the­ma wer­den unter­schied­li­che Tei­le der Bevöl­ke­rung mobi­li­siert – und sicher­lich haben die Zei­ten, in denen wir leben, einen Ein­fluss dar­auf, wel­che The­men wel­che Bevöl­ke­rungs­tei­le stär­ker oder weni­ger stark mobilisieren.

Ob sich die gesam­te Stimm­bür­ger­schaft heu­te ganz anders zusam­men­setzt als frü­her, kön­nen wir nicht im Detail sagen. Es gibt in der Schweiz erst seit den 1980er Jah­ren ent­spre­chen­de For­schung. Deut­lich sagen kön­nen wir aber, dass sich die Wäh­ler­schaft der Par­tei­en über die Zeit teil­wei­se klar ver­än­dert hat. So sind heu­te bei­spiels­wei­se in der SP-Wäh­ler­schaft die sozio­kul­tu­rel­len Spezialist:innen in der Über­zahl, wäh­rend die SP frü­her als Par­tei der Arbeiter:innen galt. Auf der ande­ren Sei­te konn­te sich die SVP von der pro­tes­tan­ti­schen, klei­nen Bau­ern- und Gewerb­ler­par­tei zu einer Gross­par­tei mit einem brei­ten Par­tei­pro­gramm mau­sern, das bei einer brei­ten Bevöl­ke­rungs­schicht Anklang findet.

Inter­es­sant ist, dass die ers­ten Frau­en­gene­ra­tio­nen, die in der Schweiz der 1970er Jah­re über poli­ti­sche Rech­te ver­füg­ten, damals als eher kon­ser­va­tiv gal­ten. Seit Ende der 1980er Jah­re bewe­gen sich die Frau­en aber immer etwas links von den Män­nern. Es besteht auch die Ver­mu­tung, dass sich die­se Sche­re noch mehr öffnet.

Wor­in unter­schei­den sich denn Stimm­bür­ge­rin­nen auch sonst von Stimm­bür­gern noch?

Das poli­ti­sche Selbst­ver­trau­en ist viel­leicht bei Frau­en im All­ge­mei­nen noch tie­fer als bei Män­nern. Wir haben im Rah­men einer Unter­su­chung die Wort­mel­dun­gen an der Lands­ge­mein­de in Gla­rus unter­sucht. Dabei zeigt sich, dass Frau­en unter­durch­schnitt­lich oft das Wort ergrei­fen. Auch bei den Frau­en, die genau­so inter­es­siert und infor­miert sind wir Män­ner, ist die Hem­mung, sich an so einer Zusam­men­kunft wie bei­spiels­wei­se an der Lands­ge­mein­de zu äus­sern, viel aus­ge­präg­ter als bei Män­nern. Dadurch ist auch die Domi­nanz der Män­ner gross, was wie­der­um eine Hür­de für Frau­en ist, sich zu äussern.

Ver­läuft die Mobi­li­sie­rung bei Stimm­bür­ge­rin­nen denn anders als bei Stimmbürgern?

Soweit ich weiss, nut­zen Frau­en nicht ande­re Infor­ma­ti­ons­ka­nä­le als Män­ner, daher ver­läuft die Mobi­li­sie­rung an sich sicher­lich nicht grund­ver­schie­den.  Da die Mobi­li­sie­rung gene­rell stark über die The­men läuft, ist es für die Mobi­li­sie­rung sicher­lich wich­tig, dass die Betrof­fen­heit für gewis­se Grup­pen auf­ge­zeigt wird. Dies gelingt häu­fig bes­ser, wenn Betrof­fe­ne selbst mobi­li­sie­ren. Jüngst haben etwa die Frau­en­streiks oder auch die Kam­pa­gne «Hel­ve­tia ruft» gezeigt, dass Frau­en ande­re Frau­en für ihre Inter­es­sen gut mobi­li­sie­ren kön­nen. Da die Poli­tik nach wie vor stark männ­lich geprägt ist, sind sol­che gut sicht­ba­ren, öffent­li­chen Kam­pa­gnen oder Ver­an­stal­tun­gen für die Mobi­li­sie­rung von Stimm­bür­ge­rin­nen sicher­lich beson­ders wichtig.

Haben die Stimm­bür­ge­rin­nen in der Schweiz eigent­lich schon ein­mal den Aus­schlag für ein Abstim­mungs­er­geb­nis gegeben?

Die VOX-Nach­be­fra­gun­gen wei­sen etwas mehr als 20 Mal seit 1977 aus, dass sich die Mehr­heit der Stimm­bür­ge­rin­nen anders ent­schie­den hät­te als die Mehr­heit der Stimm­bür­ger (sie­he die Bei­trä­ge von Clau­de Long­champ hier und hier). Das ist bei unge­fähr 420 eid­ge­nös­si­schen Abstim­mun­gen seit 1977 nicht all­zu oft. Dabei haben Män­ner und Frau­en je fast gleich häu­fig «gesiegt» an der Urne – die Män­ner in ein­zel­nen Fäl­len auch dank dem Stän­de­mehr. Gemäss Nach­be­fra­gun­gen zum ers­ten Mal mehr­heit­lich anders gestimmt hat­ten Frau­en und Män­ner im Jahr 1985: Das neue Ehe- und Erbrecht, das den Frau­en vie­le Ver­bes­se­run­gen gebracht hat, wäre ohne Frau­en wohl knapp geschei­tert. Das letz­te Bei­spiel war die AHV-Reform 2021, die von den Frau­en im Sep­tem­ber 2022 deut­lich abge­lehnt aber von den Män­nern deut­lich befür­wor­tet wurde.

Auf­fal­lend sind zwei Aspekte:

Ers­tens gab es zwei Mal eine Wel­le, die dazu führ­te, dass die Frau­en mehr­heit­lich anders stimm­ten als Män­ner. Zum einen in den 1990er Jah­ren und zum ande­ren nach dem Erstar­ken der Frau­en­be­we­gung ab 2019. Das zeigt erneut die Bedeu­tung der öffent­li­chen Sicht­bar­ma­chung von Frau­en­in­ter­es­sen: Auch in den 1990er Jah­ren wur­den Frau­en ins­be­son­de­re durch den Frau­en­streik 1991 sowie durch die Nicht­wahl von Chris­tia­ne Brun­ner in den Bun­des­rat stark mobilisiert.

Zwei­tens sehen wir vor allem bei The­men rund um Mili­tär, Ver­tei­di­gung und Waf­fen, dass sich die Ein­stel­lun­gen von Män­nern klar von der von Frau­en unter­schei­den. Bei den The­men Umwelt, Gesund­heit und Wohl­fahrts­staat sowie Gleich­stel­lungs­po­li­tik ist eben­falls ein Gen­der Gap erkenn­bar, auch wenn sich dies nicht immer in unter­schied­li­chen Abstim­mungs­mehr­hei­ten äus­sert (sie­he den Arti­kel von Funk und Gath­mann). Unter­schied­li­che Lebens­wel­ten schei­nen unter­schied­li­che Ein­stel­lung mit sich zu brin­gen und die Ten­denz zu ver­stär­ken, dass Frau­en im Schnitt etwas mehr nach links rücken als Männer.


Mar­lè­ne Gerber

Mar­lè­ne Ger­ber stu­dier­te Poli­tik­wis­sen­schaft, Geo­gra­phie und Völ­ker­recht in Bern und Hel­sin­ki und dok­to­rier­te am IPW in Bern. Seit 2010 arbei­tet sie bei Année Poli­tique Suis­se und ist dort aktu­ell stell­ver­tre­ten­de Direk­to­rin. Ihre For­schungs­schwer­punk­te lie­gen im Bereich der Deli­be­ra­ti­on, der direk­ten Demo­kra­tie, Geschlech­ter­gleich­heit und Wahlkampagnen.

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Bild: unsplash.com

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