Parlamentswahlen 2024: Die grosse Unklarheit in Frankreich

Wie sind die jüngs­ten poli­ti­schen Ereig­nis­se in Frank­reich ein­zu­ord­nen? Emi­lia­no Gross­mann bewer­tet die Stra­te­gie von Emma­nu­el Macron und zeigt mög­li­che Sze­na­ri­en für die fran­zö­si­sche Poli­tik nach der zwei­ten Run­de der Par­la­ments­wah­len am 7. Juli auf.

Nur weni­ge Minu­ten nach der Ver­öf­fent­li­chung der Wahl­re­sul­ta­te der Euro­pa­wah­len in Frank­reich kün­dig­te Emma­nu­el Macron vor­ge­zo­ge­ne Par­la­ments­wah­len für den 30. Juni (ers­te Run­de) und den 7. Juli (zwei­te Run­de) an. Die­se Ent­schei­dung war eine gros­se Über­ra­schung und lös­te in der fran­zö­si­schen Poli­tik eine Rei­he inten­si­ver Debat­ten und Ver­hand­lun­gen aus. Es ist aber eher unwahr­schein­lich, dass die vor­ge­zo­ge­nen Neu­wah­len zur Lösung der aktu­el­len poli­ti­schen Kri­se Frank­reichs bei­tra­gen. Im Gegen­teil, es ist eher wahr­schein­lich, dass sie die­se verschärfen.

Von der Vorbereitung der Europawahlen bis zur Auflösung der Nationalversammlung

Es wur­de im Vor­feld der Euro­pa­wah­len von 9. Juni erwar­tet, dass die­se in Frank­reich weit­ge­hend von der Par­tei Mari­ne Le Pens, dem Ras­sem­ble­ment Natio­nal (RN), domi­niert wer­den. Die Umfra­gen gin­gen seit lan­gem von einem sehr guten Abschnei­den des RN aus, wäh­rend die Par­tei von Macron mit erheb­li­chen Ver­lus­ten sowohl im Ver­gleich zur Euro­pa­wahl 2019 als auch zu den Par­la­ments­wah­len 2022 rech­nen musste. 

Über­ra­schen­den­der­wei­se kam es im Wahl­kampf auf Vor­schlag der Regie­rung zu einer Fern­seh­de­bat­te zwi­schen Jor­dan Bar­del­la, dem Spit­zen­kan­di­da­ten des RN für die Euro­pa­wah­len, und Pre­mier­mi­nis­ter Gabri­el Attal vor. Gabri­el Attal kan­di­dier­te aller­dings gar nicht für das Euro­päi­sche Par­la­ment. Die­se Fern­seh­de­bat­te führ­te daher zu star­ker Kri­tik von Sei­ten der Oppo­si­ti­on, da sie Jor­dan Bar­del­la eine gros­se Büh­ne bot, unab­hän­gig von sei­ner bis­he­ri­gen poli­ti­schen Leistung.

Die ers­ten Wahl­re­sul­ta­te bestä­tig­ten denn auch die Umfra­gen, wie unten­ste­hen­de Dar­stel­lung zeigt. Frank­reich ver­wen­det für die Euro­pa­wah­len ein pro­por­tio­na­les Wahl­sys­tem, was sich in der all­ge­mei­nen Über­ein­stim­mung zwi­schen den erhal­te­nen Stim­men pro Par­tei und den 81 Sit­zen, die Frank­reich im Euro­päi­schen Par­la­ment hat, widerspiegelt.

Abbildung 1. Verteilung der französischen Stimmen und Sitze für das Europäische Parlament

Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto · Daten: Französisches Innenministerium

Renais­sance, die Par­tei von Prä­si­dent Macron, lan­de­te auf dem zwei­ten Platz und erhielt somit weni­ger als die Hälf­te der Stim­men, die das RN auf sich ver­ei­nen konn­te. Zudem schnitt das Bünd­nis zwi­schen der Sozia­lis­ti­schen Par­tei und Place Publi­que mit ihrem belieb­ten Vor­sit­zen­den Raphaël Glucks­mann fast genau­so gut ab wie Renaissance.

Auch wenn das Ergeb­nis der Euro­pa­wah­len mit der gerin­gen Betei­li­gung von 51.5 Pro­zent nicht über­be­wer­tet wer­den soll­te, fügen sich die Ergeb­nis­se den­noch in den seit 2017 anhal­ten­den Trend ein, der zu einer tief­grei­fen­den Umwäl­zung des fran­zö­si­schen Par­tei­en­sys­tems führ­te, wie Gou­gou und Per­si­co ana­ly­siert haben [bro­ken link].

Die­ser Pro­zess ist noch lan­ge nicht abge­schlos­sen: Er hat wahr­schein­lich eher eine Pha­se erheb­lich grös­se­rer Vola­ti­li­tät ein­ge­lei­tet. Die bei­den Par­tei­en, die das poli­ti­sche Leben der 5. Repu­blik domi­nier­ten, die Sozia­lis­ti­sche Par­tei und die gaul­lis­ti­sche Par­tei, deren aktu­el­ler Erbe die Repu­bli­ka­ner sind, schei­nen heu­te sehr geschwächt, wenn nicht gar vom Ver­schwin­den bedroht.

Macrons Par­tei hat­te bei den Par­la­ments­wah­len 2017 her­vor­ra­gen­de Ergeb­nis­se erzielt, begüns­tigt durch die Demo­bi­li­sie­rung der kon­ser­va­ti­ven und extrem lin­ken Wäh­ler. Nach­dem die­se damals im ers­ten Wahl­gang 28 Pro­zent der Stim­men erhal­ten hat­te, erreich­te sie im zwei­ten Wahl­gang 53 Pro­zent der Sit­ze. Das Prä­si­den­ten­la­ger konn­te die­sen Erfolg 2022 nicht wie­der­ho­len und erhielt nur 38.5 Pro­zent der Sitze.

Das bedeu­tet jedoch nicht, dass die Regie­rung nicht in der Lage war, Frank­reich zu regie­ren. Fran­zö­si­sche Regie­run­gen benö­ti­gen kein Ver­trau­ens­vo­tum zur Amts­ein­füh­rung: Es reicht aus, wenn sie ein Miss­trau­ens­vo­tum über­ste­hen, falls es eines gibt. Die Schwä­che der Regie­rung hat sich aber in regel­mäs­sig durch­ge­führ­ten Ver­trau­ens­ab­stim­mun­gen gezeigt.

Die gros­se Mehr­heit die­ser Abstim­mun­gen fand als Reak­ti­on auf Regie­rungs­in­itia­ti­ven statt, die auf Arti­kel 49.3 der Ver­fas­sung basier­ten. Die­ser Arti­kel gilt als ein mäch­ti­ges Instru­ment in den Hän­den schwa­cher Exe­ku­ti­ven: Ein Gesetz­ent­wurf gilt als ange­nom­men, es sei denn, die Regie­rung wird durch ein Miss­trau­ens­vo­tum abge­setzt. Dank die­ses Ver­fah­rens konn­te Eli­sa­beth Bor­ne, Macrons Pre­mier­mi­nis­te­rin bis Janu­ar 2024, meh­re­re Dut­zend Gesetz­ent­wür­fe durch­brin­gen, dar­un­ter die sehr umstrit­te­ne Ren­ten­re­form sowie ein Gesetz­ent­wurf zur Ein­schrän­kung der Rech­te von Migran­tin­nen und Migranten.

Die riskante Wette von Präsident Macron

Die Grün­de, war­um Macron vor­ge­zo­ge­ne Wah­len ein­be­ru­fen hat, sind nicht voll­stän­dig bekannt. Einer der von sei­nem Umfeld ange­führ­ten Grün­de betrifft die Schwie­rig­keit, mit einer rela­ti­ven Par­la­ments­mehr­heit wei­ter zu regie­ren. Die­ser Punkt ist umstrit­ten, wie ich bereits erwähnt habe. 

Ein wei­te­res vor­ge­brach­tes Argu­ment ist die Not­wen­dig­keit, auf die Bot­schaft zu reagie­ren, die die Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler bei den Euro­pa­wah­len gesen­det haben. Die­ses Argu­ment ist eben­falls nicht voll­stän­dig glaub­wür­dig. 2014 beleg­ten die amtie­ren­den Sozia­lis­ten mit weni­ger als 14 Pro­zent der Stim­men den drit­ten Platz, ohne dass die sozia­lis­ti­sche Regie­rung in der Fol­ge dar­aus spür­ba­re Kon­se­quen­zen zog.

Ein drit­ter Grund scheint über­zeu­gen­der: Da Mari­ne Le Pen zuneh­mend als gesetz­te Kan­di­da­tin für die Prä­si­dent­schafts­wahl 2027 erscheint, könn­te die­se vor­ge­zo­ge­ne Wahl ihre Par­tei zwin­gen, frü­her Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men. Die Bür­de der Regie­rungs­ver­ant­wor­tung – d.h. der beob­ach­te­te Rück­gang in der Wäh­ler­gunst, den die amtie­ren­den Macht­trä­ger im Lau­fe der Zeit ten­den­zi­ell erle­ben – könn­te ihre Chan­cen auf einen Sieg 2027 schmälern.

Dar­über hin­aus erhofft sich Macron wahr­schein­lich, dass die­ses Vor­ge­hen sei­ne eige­nen Anhän­ger­schaf­ten ver­eint und die gaul­lis­ti­schen Abge­ord­ne­ten zwingt, ihre Unter­stüt­zung für sei­ne Regie­rung kla­rer zu bekun­den. Die Tat­sa­che, dass die Lin­ke wei­ter­hin tief gespal­ten ist, könn­te eben­falls dazu eben­falls bei­getra­gen haben. Die sehr kur­ze Frist (drei Wochen vor der Wahl und nur eine Woche für die Ein­rei­chung der Kan­di­da­tu­ren) schien Ver­hand­lun­gen zwi­schen den poli­ti­schen For­ma­tio­nen unwahr­schein­lich zu machen.

Was auch immer die Moti­va­ti­on war, die Reak­tio­nen waren eher uner­war­tet. Die vier wich­tigs­ten lin­ken Par­tei­en schaff­ten es, inner­halb von nur vier Tagen ein Wahl­bünd­nis zu schlies­sen. Auch wenn wei­ter­hin Dif­fe­ren­zen bestehen, könn­te das lin­ke Bünd­nis bei den Wah­len erfolg­reich sein. Zudem erklär­te Eric Ciot­ti, der Prä­si­dent der Repu­bli­ka­ner (der ehe­ma­li­gen gaul­lis­ti­schen Par­tei), am 11. Juni eine Alli­anz mit dem RN. Dies führ­te sofort zu sei­nem Par­tei­aus­schluss, der aller­dings spä­ter von der Jus­tiz für ungül­tig erklärt wur­de und mög­li­cher­wei­se das Prä­si­den­ten­la­ger wei­ter schwächt. Aller­dings konn­te auch das RN kei­ne Eini­gung mit der ande­ren rechts­ex­tre­men Par­tei, dem Recon­quê­te von Éric Zem­mour, erzielen.

Und jetzt?

Im aktu­el­len Kon­text scheint kei­ne von Macrons bevor­zug­ten Optio­nen sehr rea­lis­tisch. Das Prä­si­den­ten­la­ger, bestehend aus sei­ner eige­nen Par­tei und ande­ren zen­tris­ti­schen Kräf­ten, dürf­te einen Gross­teil sei­ner Sit­ze ver­lie­ren, wäh­rend sei­ne mög­li­chen Ver­bün­de­ten von den Repu­bli­ka­nern um ihr poli­ti­sches Über­le­ben kämp­fen wer­den. Gleich­zei­tig wird aber auch das RN die abso­lu­te Mehr­heit von 289 Sit­zen kaum errei­chen, auch wenn eini­ge Umfra­gen dar­auf hin­deu­ten, dass es ihr nahe kom­men könn­te. Den­noch könn­te eines von Macron favo­ri­sier­ten Sze­na­ri­en ein­tref­fen: RN könn­te die abso­lu­te Mehr­heit knapp erlan­gen und müss­te mit wenig oder kei­ner Vor­be­rei­tung regieren.

Das wahr­schein­lichs­te Sze­na­rio, basie­rend auf den der­zeit ver­füg­ba­ren Daten, ist aber ein Par­la­ment mit einer rela­ti­ven Mehr­heit für das RN, einem zwei­ten lin­ken Block und einem klei­nen Block aus der poli­ti­schen Mit­te. Dies wür­de die Auf­ga­be des Pre­mier­mi­nis­ters sehr schwie­rig machen, und es bestün­de die Gefahr, dass Ver­trau­ens­ab­stim­mun­gen ver­lo­ren gehen, was zu Regie­rungs­in­sta­bi­li­tät auf einem Niveau füh­ren könn­te, wie es in der Vier­ten Repu­blik der Fall war — die­se erleb­te 24 Regie­run­gen in 12 Jah­ren. Dadurch könn­te eine tech­no­kra­ti­sche Regie­rung, sprich eine unpar­tei­ische Regie­rung, als wün­schens­wer­tes­te Opti­on erscheinen.

Auf jeden Fall ist es unwahr­schein­lich, dass das ris­kan­te Spiel der Auf­lö­sung des Par­la­ments die Sie­ges­chan­cen von Mari­ne Le Pen im Jahr 2027 erheb­lich ver­rin­gert. In der Zwi­schen­zeit wird eher vor allem viel Unsi­cher­heit geschaf­fen, was die Span­nun­gen inner­halb der fran­zö­si­schen Gesell­schaft verstärkt.

Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin­nen und ‑wis­sen­schaft­ler wis­sen, dass sie bes­ten­falls die Ver­gan­gen­heit unter­su­chen kön­nen, aber in der Regel schlecht dar­in sind, die Zukunft vor­her­zu­sa­gen. Es ist klar, dass Macron dar­in auch nicht bes­ser ist, aber die Kon­se­quen­zen sei­nes Han­delns sind wesent­lich bedeutender.


[1] sie­he Emi­lia­no Gross­man und Isa­bel­le Guin­au­deau, “The Cost of Ruling abo­ve ever­ything else: exp­lai­ning par­ty popu­la­ri­ty in Fran­ce” in Timo­thy Hell­wig und Mathew Sin­ger (Hrsg.), Eco­no­mics and Poli­tics revi­si­ted: Exe­cu­ti­ve Appro­val and the New Cal­cu­lus of Sup­port, New York, Oxford Uni­ver­si­ty Press, 2023, S. 80–107.

Bild: Flickr

 

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